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Das junge Unglück von Acarlar

„Das Problem ist, dass sich die Gesellschaft viel schneller ändert als die Traditionen der Leute“

aus Acarlar JÜRGEN GOTTSCHLICH

Ayhan Yener ist klein, gedrungen und lebhaft. Hinter seinem riesigen Schreibtisch wirkt er auf den ersten Blick etwas verloren, doch sobald er anfängt zu reden, füllt er den Raum. Seine Arme wedeln durch die Luft, alle Anwesenden werden durch kurze, rhetorische Zwischenfragen in seinen Monolog miteinbezogen.

Das gestaltet sich etwas schwierig, denn das kleine Büro ist gestopft voll. Außer Ayhan Yener, dem Bürgermeister von Acarlar, sind noch der Polizeichef des Ortes, ein Gehilfe des Stadtoberhaupts, zwei Zivilpolizisten aus der Provinzhauptstadt Aydin und zwei ausländischen Journalisten im Raum. Ayhan Yener ist sichtlich nervös. Er redet über Acarlar, den wirtschaftlichen Aufstieg des 9000-Einwohner-Dorfes, über den Fleiß der Bewohner und die Ungerechtigkeit in der Welt, die das alles kaputtzumachen droht. Irgendwann stoppt sein Redefluss, er verliert den Faden und bietet so die Gelegenheit, ihn an sein Versprechen zu erinnern. Der Bürgermeister wollte einen Kontakt zu einer der Familien seines Dorfes herstellen. „Okay“, sagt er abrupt, „gehen wir“.

Der folgende Besuch gleicht einer kleinen Prozession. Der Bürgermeister, sein Stellvertreter, die Polizisten in Zivil nehmen die Besucher in die Mitte und alle gemeinsam füllen kurz darauf das Wohnzimmer der Familie Demir. Die wissen gar nicht so recht wie ihnen geschieht. Mit Journalisten, ausländischen gar, hatten sie noch nie zu tun, die geballte Ansammlung der Staatsmacht erleichtert das Gespräch nicht gerade. Während Herr Demir nervös an seiner Krawatte zupft, gibt sich seine Frau einen Ruck und kommt zur Sache. „Das, was die Zeitungen über uns geschrieben haben, ist eine große Beleidigung. Glauben Sie etwa, dass wir unsere Kinder verkaufen würden?“ Empört zeigt sie auf ihre zehnjährige Tochter und den 13-jährigen Sohn, die sich beide verängstigt an ihre Eltern drängen und nicht den Eindruck machen, als seien sie im heiratsfähigen Alter.

Genau das aber hatten türkische Boulevard-Zeitungen Ende letzten Jahres behauptet: „Die Eltern von Acarlar verkaufen ihre Kinder“, hieß es. Zehnjährige Mädchen sollen für ein Brautgeld von rund 1.500 Euro zur Ehe gezwungen worden sein und das gleich dutzendweise. 13-Jährige, so war zu lesen, kämen bereits mit eigenem Baby zur Schule. „Das ist doch eine große Lüge“, sagt Süreya Demir aufgebracht. „Es gibt zwar einige Fälle, in denen Mädchen im Dorf früh geheiratet haben. Aber die waren dann mindestens vierzehn, weil die Kinder hier doch oft erst zwei Jahre nach der Geburt offiziell angemeldet werden“.

Wer recht hat, wird nun vor Gericht geklärt. Aufgeschreckt durch die Medien, sah sich die Staatsanwaltschaft der Provinzhauptstadt Aydin gezwungen, aktiv zu werden und der Sache nachzugehen. Innerhalb weniger Tage wurden im Januar 80 Väter und angebliche Ehemänner aus Acarlar verhaftet, 20 befinden sich noch in Untersuchunghaft. Seit Februar stehen die 80 Männer vor dem Bezirksgericht. Ihnen wird Unzucht mit Minderjährigen vorgeworfen.

Denn juristisch gesehen wurden die Ehen gar nicht geschlossen. Die Familien verheirateten die Mädchen ohne Standesbeamten und meist auch ohne geistlichen Beistand eines Imams. Es gab ein Fest und die Eltern regelten alles. „Später, wenn die Mädchen das gesetzliche Heiratsalter errreicht hatten“, erzählt Frau Demir, „wurde die Verbindung offiziell legalisiert“. Dazwischen lagen vielleicht ein, zwei Jahre.

Die beiden Kinder der Demirs, der 13-jährige Oguzhan und die zehnjährige Nurdan gehen beide in Acarlar zur Schule. „In meiner Klasse“, sagt Oguzhan, „hat kein Mädchen ein Baby“.

Während des Gesprächs macht einer der Zivilpolizisten Aufnahmen mit einer Videokamera. Jeder Satz wird dokumentiert, nicht dass die Journalisten etwas Falsches schreiben. Und womöglich einer der Anwesenden noch etwas Falsches sagt. „Der Staat“, versucht Bürgermeister Yener zu erläutern, „der Staat musste ja etwas tun, nach dieser ganzen Medienhetze“. Daher komme der Ärger.

Hasan Kadife sieht das anders. Er ist der Korrespondent einer Fernsehstation aus Izmir und sein Bericht über Acarlar hatte alles ins Rollen gebracht. Sein Cousin, dessen Freund als Lehrer in einer der drei Schulen in Acarlar unterrichtet, hatte ihm von Kindern, die mit dem Baby auf dem Arm zur Schule kommen, erzählt. Hasan wollte das erst nicht glauben, fuhr dann aber doch mit seinem Kameramann nach Acarlar. „Wir haben auf dem Schulhof mit den Kindern geredet. Alle erzählten von Freundinnen und Freunden die schon verheiratet sind, Mädchen, die bereits schwanger sind oder gar selbst ein Kind haben. Es war unglaublich“. Am Anfang, meint Kadife, wurden die Kinderhochzeiten in Acarlar gar nicht bestritten. Das ist bei uns halt Tradition, hätten die Leute gesagt: Mit 16 sei ein Mädchen doch bereits eine alte Jungfer. Erst als eine überregionale Zeitung, die Geschichte aufgriff und die Eltern beschuldigte, sie verkauften ihre Kinder, sei die Stimmung umgeschlagen. „Plötzlich standen die Leute als Monster am Pranger“.

Das Dorf Acarlar liegt am Fuße der Aydin-Berge, mitten in einer fruchtbaren Ebene, durch die der Büyükmenderes, einer der größten Flüsse der Ägäis, ins Meer fließt. Die Dörfler sind als Gemüsebauern berühmt, sie verkaufen ihre Produkte bis weit über die Provinzgrenzen hinaus. Die 20 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Aydin gehört zu den reichen, am besten entwickelten Städten der Westtürkei. Aydin, so erzählt Ergün Yakon, Vorsitzender der Anwaltskammer stolz, hat prozentual den höchsten Akademikeranteil der Türkei. Warum dann diese Häufung von Kinderhochzeiten in einem Dorf ganz in der Nähe? „Die Bewohner von Acarlar“, meint Ergün Yakon, der acht der inhaftierten Männer verteidigt, „sind ebenfalls Nomaden. Sie sind Abdallahs, Angehörige eines Turkvolks, das ursprünglich aus dem Gebiet Horasan – heute im iranisch-afghanischen Grenzgebiet – kommt und erst seit drei Generationen in Acarlar sesshaft geworden ist. Viele Leute hier bezeichnen sie auch als Zigeuner, aber das stimmt nicht“.

Ein anderer Anwalt, Tunc Aytur, der ebenfalls mehrere Männer vertritt und die Dorfbewohner bereits seit 30 Jahren kennt, ist überzeugt, dass eigentlich gar nichts passiert ist. „Die Leute haben sich verhalten wie immer, so wie sie seit Generationen leben. Die Abdallahs heiraten früh, das ist völlig normal. Die Mädchen werden auch nicht an ältere Männer verkauft, sondern heiraten Jungen, die nur wenig älter sind. Die angeklagten Ehemänner sind ja auch alle zwischen 17 und 22 Jahre alt.“ Das Brautgeld, sagt Aytur, sei Teil der Tradition und komme meist dem Paar zugute. „Viele sind vom Brautgeld auch schon abgekommen und schenken lieber gleich einen Kühlschrank“. Der Vorwurf, Eltern verkauften ihre Kinder, sei absurd.

„Das Problem“, erklärt Tunc Aytur, „ist, dass sich die Gesellschaft viel schneller ändert als die Traditionen der Leute“. Die Kinderhochzeiten in Acarlar fielen erstmals auf, als vor knapp drei Jahren die Schulpflicht in der Türkei von vier auf acht Jahre verlängert wurde. Früher blieben die Kinder ab dem Alter von zehn Jahren sowieso zu Hause, aber heute fällt es auf, wenn sie nicht in die Schule kommen. Zudem wurde mit dem neuen Zivilrecht das Heiratsalter für Mädchen von 15 auf 18 Jahre heraufgesetzt (siehe Kasten).

„Alle erzählten von Mädchen, die bereits schwanger sind oder gar selbst ein Kind haben“

„Plötzlich sollen diese Menschen Verbrecher sein“, sagt Aytur. In der Vergangenheit sei es halt so gewesen, dass zwischen der eigentlichen Heirat und der späteren Legalisierung auf dem Standesamt ein, zwei Jahre gelegen hätten. „Das war nicht so dramatisch“. Auch den Vorwurf, die Kinder seien von den Eltern zwangsverheiratet worden, weist der Anwalt zurück. „Die Kinder werden gefragt und die Partner kennen sich“

Ob die Version des Anwalts stimmt, ist für Journalisten zur Zeit kaum nachprüfbar. Interviews mit den betroffenen Mädchen werden vom gesamten Dorf verhindert und die Staatsmacht tut alles, um Beobachter von einem Besuch des Dorfes abzuschrecken. Unter dem Vorwand, die Einwohner seien aufgrund der Sensationsberichterstattung Journalisten gegenüber feindselig eingestellt, lässt der Polizeichef von Aydin auswärtige Besucher überwachen. Diese Zivilpolizisten sorgen dann dafür, dass selbst Zufallsinterviews auf der Dorfstraße unmöglich werden, auch wenn jemand bereit wäre zu reden.

Den Offziellen in Aydin ist die Geschichte furchtbar peinlich. Der Gouverneur, der Staatsanwalt und der Polizeichef hätten am liebsten alles vertuscht. Die Veröffentlichungen über die Kinderhochzeiten betrachten sie als Rufschädigung für die gesamte Provinz.

In dem ganzen Schlamassel sitzt der kleine Dorfbürgermeister Ayhan Yener zwischen allen Stühlen. Der Gouverneur bedrängt ihn zu schweigen, weil er keine schlechte Presse über seine Provinz mehr haben will und seine Leute im Dorf erwarten, dass er sie vor der vermeintlich feindlichen Umwelt schützt.

Dabei würde Ayhan Yener der Welt doch so gerne erklären, was in Acarlar wirklich los ist. Nach dem offiziellen Teil gibt er sich einen Ruck und lädt zum Essen in sein Haus ein. Privat, ohne Polizei und Begleitschutz. Erst dort, am Küchentisch, sinniert der Bürgermeister darüber, dass die Sitten in Acarlar wohl nicht mehr zeitgemäß sind und es besser ist, wenn auch die Mädchen eine gute Ausbildung bekommen. „Der Skandal“ räumt er ein, „hat auch etwas Gutes. Er hat alle wachgerüttelt“.

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