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Gegen das Verheimlichen

Hamburger Euthanasie-Opfer wird heute symbolisch in Wien beigesetzt  ■ Von Andreas Speit

Irma Sperling wird bereits zum dritten Mal begraben. 1944 verscharrt in einem Massengrab in Wien, 1996 feierlich beigesetzt in Hamburg wird sie heute erneut würdig in der österreichischen Hauptstadt beerdigt. Nach über 58 Jahren wird die Urne des Euthanasie-Opfers aus Hamburg symbolisch für die in den letzten Jahren aufgefundenen Überreste von 791 Opfern der Medizin im Nationalsozialismus auf dem Zentralfriedhof bestattet. „Hoffentlich setzten wir nun wirklich alle sterblichen Überreste von Irma bei“, betont Irmas Schwester Antje Kosemund. Zusammen mit weiteren Angehörigen der Hamburger Opfer nimmt sie als Gast der Stadt Wien an der „Ökumenischen Gedenkfeier“ teil.

Schon im Mai 1996 hatten Betroffene aus der Hansestadt geglaubt, im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die Hamburger Euthanasie-Opfer die noch vorhandenen sterblichen Überreste auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt zu haben.

Am 16. August 1943 waren Irma und weitere 227 Mädchen und Frauen von den Alsterdorfer Anstalten zur Wiener Klinik „ Am Steinhof“ deportiert worden. Knapp fünf Monate später starb die 14-Jährige nach „medizinischen Experimenten im Dienste der Wissenschaft“ in der Kinderfachabteilung des Wiener Klinikums. Die Leichen wurden obduziert und die Gehirne präpariert.

Erst 1994 erfuhr Kosemund per Zufall, dass sterbliche Überreste ihrer älteren Schwester noch in der „Gehirnkammer“ des Psychiatrischen Krankenhauses „Baumgartner Höhe“ aufbewahrt werden. Unterstützt durch Michael Wunder von der „Stiftung Alsterdorf“ erstritt sie in den folgenden Jahren die Herausgabe der Gehirne der Hamburger Opfer. Jahrelang hielt die Stadt Wien, vor allem das Gesundheits- und Spitalamt, eine Freigabe und Beisetzung der sterblichen Überreste nicht für nötig. Erst in den letzten Jahren zeigten die Verantwortlichen Verständnis. Umso größer die Enttäuschung, als Kosemund im November 2001 die Nachricht erhielt, dass über 10.000 Hirnpräparate von Euthanasie-Opfern im Wiener „Ludwig-Boltzmann-Institut“ aufbewahrt und für weitere Forschungszwecke missbraucht wurden. Unter den mit Paraffin konservierten Gehirnscheiben fanden sich erneut auch sterbliche Überres-te von Irma. „Ich wollte es nicht glauben“, erzählt Kosemund, „mal wieder hatte man uns belogen“. So leugnete auch jahrzehntelang der Nachfolger des NS-Mediziners Heinrich Gross, Institutsdirektor Karl Jellinger, die Existenz des „pathologischen Materials“.

Die Missachtung der Angehörigen, das Verheimlichen und Vertrösten will Dr. Karin Mosse von der Gesundheitsplanung der Stadt Wien und Beauftragte des Projekts „Opfer des Spiegelgrund“ nicht beschönigen. „Wir sind uns des unwürdigen Umgangs mit den Opfern und ihren Angehörigen sehr bewusst“. Auch deshalb wird heute für Angehörige eine Gedenkfeier stattfinden und am 28. April die Stadt Wien einen öffentlichen „Feierlichen Trauerakt“ durchführen.

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