: Großer Abwesender
Überall dabei sein: Georg Paul Thomann, die zentralste aller öffentlichen Randerscheinungen, vertritt Österreich auf der Biennale von São Paulo
von DIEDRICH DIEDERICHSEN
„Wer erschoss Immanenz?“ Waren es die üblichen Verdächtigen, Transzendenz und Referenz? Oder haben die nur den Hilfssheriff erschossen, und das in Notwehr? Die Betrachtungen „Zur Dynamik von Aneignung und Intervention bei Georg Paul Thomann“ beantworten diese Frage nicht, der Referenz fehlt jedes Alibi. Zur Tatzeit flocht er anspielungsreiche Kränze.
Georg Paul Thomann ist nicht der erste fiktive Künstler, aber meines Wissens der erste, der ein EU-Land bei einer außereuropäischen Biennale vertritt, nämlich Österreich in São Paulo. Anders als der italobritische situationistische Oi-Punk Luther Blisset oder die Phantomband Lt. Murnau steht sein Name aber nicht jedem zur Verfügung – bislang lebte er relativ exklusiv im Mega-Fanzine Monochrom. Anders als die Residents ist sein Name kein Cover für echte Personen, die anonym bleiben wollen. Anders als wiederum Lt. Murnau, Negativland oder Culturecide in der Musik oder zahllose Prankster-Erfindungen in der Kunst soll seine fiktive Person nicht vornehmlich der Enthüllung von Korruption in der offiziellen Kultur dienen. Thomann ist, so versteht man nach der Lektüre des zur Biennale erschienenen Katalogs, in erster Linie um der Freude am Erzählen mit echtem historischen Material aus der Welt der Kunst und der Radikalität willen entstanden. Hätten sie ihn nicht erfunden, hätten seine Herausgeber einen Schlüsselroman schreiben müssen.
Thomann fällt zunächst durch Vertrautheit auf. Anders als Zelig entleert er sich nicht dadurch, dass er immer und überall dabei war. Anders als Zelig war er ja stets Akteur: Anstifter, Schuldiger. Thomann erinnert mich eher an jenen in Österreich unvermeidlichen Moment, wenn in Kneipen der großen Tage der Avantgarde gedacht wird. Denn immer, wenn die fünfzehnte Konrad-Bayer-Anekdote erzählt wurde, wird einer erzählen, dass der Wiener, Mühl, Artmann, Handke, Czernin oder West in Wirklichkeit alle seine Einfälle geklaut habe. Und dann fällt der Name eines allen Beteiligten bekannten Drogenpropheten und Jazzdichters, der sich leider schon mit 23 zu Tode gesoffen habe, der aber – total genial – alles Wichtige in Wirklichkeit Jahre vorher erfunden habe, womit die Überlebenden Jahre später wucherten. Thomann ist nun die Rache all dieser Frühverstorbenen. Er hatte, glaubt man „Wer erschoss Immanenz“, auch all diese Einfälle, aber er lebt und vertritt Österreich in São Paulo.
Will man Thomann mit echten Menschen überblenden, dann bietet sich an, ihn als eine Mischung aus Martin Kippenberger und Peter Weibel zu beschreiben, zwei Meistern der Integration vieler Wege in eine Biografie. Thomann hat auch mit beiden im Laufe seines Lebens zu tun. Weibel beeindruckt er durch seine Verfilmung der Bibel „Seite für Seite in Lesetempo“ (für die Ars Electronica 1979, live auf Reklamewände in Bombay, Kabul und Kioto übertragen), die dieser eine „virtuelle Skulptur, die Andy Warhol von den Füßen auf den Kopf stellt“ nennt. Ja, das könnte der 1979 tatsächlich gesagt haben. Später zerstreiten sie sich.
Kippenberger lernt er natürlich in den frühen 80ern kennen und stellt mit ihm zusammen aus, unter anderem in einer Schau mit dem Titel „Dass die Ausstellung typisch Mann ist, ist eine Einstellung, die typisch Frau ist.“ Später sollte sich Thomann von einigen sexistischen Verirrungen der 80er distanzieren. Nicht aber von seinem Freund Martin, um den er 1997 sehr trauern wird. Wenn Thomann von Weibel die Neigung übernimmt, überall dabei sein zu müssen, und zwar mit dem Anspruch, schon vorher dabei gewesen zu sein, als das, wobei man war, noch gar nichts war, dann hat er mit Kippenberger gemeinsam, dass er ohne Spezialisierungen ein Thema machen kann.
Thomann ist indes intellektueller als Kippenberger: Er macht auch vor diskursiven Moden nicht Halt und verfolgt zudem ein besonders obsessives politisches Provokationsprogramm. Und er ist hipper als Weibel: Es würde Thomann anders als dem ZKM-Direktor nicht passieren, im Jahre 2002 noch in einem Merve-Buch die Rockmusik über die Discokultur zu stellen. Mit Rock rechnet Thomann denn auch schon Ende der 70er ab. Natürlich ist Thomann noch vieles andere, das in jedem wirklichen Künstlerleben unvereinbar geblieben wäre: Anti-Nazi-Aktivisten sind selten an internationalen Cyberspace-Projekten beteiligt, Journalisten, die fürs ZDF über die Mühl-Kommune arbeiten, nehmen nicht Platten mit Red Crayola auf. Und wer in Gruppen, die Andre Hitler oder der Arische Brauer heißen, gegen die Wiener Fantasiepriester vorgeht, schreibt nicht für die Jungle World. Leider!
Auf die engstirnige Konzentriertheit der meisten Künstlerlebensläufe hinzuweisen, ist sicher ein Verdienst der Biografie dieses extrem unkonzentrierten Meisters. Die meisten Leute stecken nämlich zwischen 20 und 25 in irgendeinem so genannten Zusammenhang; sie werden „geprägt“ und variieren den gelernten Inhalt. Thomann kommt dagegen von der Rezeption. Und ist daher an allem beteiligt, was einen Avantgarde-Fan in den letzten 40 Jahren interessieren konnte – von Dr. Strangelove bis zum Kampf gegen die FPÖ, von Herbert Achternbusch bis Heimo Zobernig. Hier funktioniert die Dokumentation von Thomanns Tausendsassatum auch als stiller Vorwurf an die Monoobsessiven. Allerdings ist es auch kein Wunder, dass Thomann die Lebensgefährtinnen wegsterben wie Theweleit’sche Fliegen. Dass die Polyobsessiven entweder schwer zu ertragen sind oder keine Feministen, ist eine erfahrungsgesättigte Tatsache.
Der Verfasser dieser Zeilen hat die ihm wenig sympathische deutschsprachige Literatur der ersten Jahrhunderthälfte im Wesentlichen über die Lektüre der drei Parodiebände von Robert Neumann, zusammengefasst unter dem Titel „Mit fremden Federn“, rezipiert: Zwei bis drei Seiten parodierter Text reichen schon. In diesem Sinne kann man auch Thomanns Bio gut als ein Digest von 40 Jahre Avantgarde-Ideen in Musik, Diskurs, bildender Kunst und oppositioneller Politik der jungen Generation als Bildungserlebnis empfehlen. Diese Leser werden die meiste Neugier entwickeln, zu unterscheiden, was ganz gelogen, was semifiktional und welcher Titel absolut authentisch ist.
Die drei Herausgeber, ORF-Moderatoren und Gegenwartskunstkuratoren, haben Thomann schon seit einiger Zeit in Monochrom verfolgt und gehätschelt. Er hat es verdient, nun unter Aufbietung brillanter Vertreter deutschsprachiger Semiprominenz endlich geadelt zu werden. Nur einer ist dabei vergessen worden, der Patriarch dieser Sorte Szeneselbstparodie: Haben denn alle Xao Seffcheque vergessen? Padlt-Noidlt-Mitglied, Minus-Delta-t-Freund, Fehlfarben-Berater, Family-Five-Gitarrist, Rondo-Manager und geistiger Urheber der O.R.a.V.s, einer Autoren-Gruppe, die sich in den frühen 80ern in Sounds, Überblick und anderswo in brutalstmöglichen Weise an Immanenz vergingen. Oder ist Seffcheque am Ende Thomann?
Thomas Edlinger/Johannes Grenzfurthner/Fritz Ostermayer (Hg.): „Wer erschoss Immanenz? Zur Dynamik von Aneignung und Intervention bei Georg Paul Thomann“. edition selene, Wien 2002, 600 S., Hardcover, 34,80 EUR
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