Recht auf Schlendrian

Berlin und Rom im Vergleich: Gustav Seibt und Stephan Speicher bei der „Literatur im Roten Rathaus“

Nachdem sich bei der Auftaktveranstaltung drei ratlose Literaten über das Thema „Deutschland – auf der Suche nach der Mitte“ eher erfolglos den Kopf zerbrochen hatten, war man diesmal bei der „Literatur im Roten Rathaus“ um etwas mehr Professionalität bemüht. Eingedenk der verpatzen Premiere schickte man den Journalisten und Sachbuchautor Gustav Seibt auf das Podium. Dessen Studie „Rom oder Tod“, die sich mit dem Schlusskapitel des italienischen Einigungsprozesses im 19. Jahrhundert beschäftigt, gab das Thema vor: die Hauptstadtwerdung von Berlin und Rom im historischen Vergleich. Neben SZ-Autor Seibt waren zwei weitere Vertreter der Zunft geladen: Stephan Speicher, Feuilletonchef der Berliner Zeitung und Kenner der Berliner Hauptstadthistorie, sowie Jan Ross von der Zeit als Moderator.

Letzterer schickte gleich ein paar Bemerkungen vorweg. Die Einigung Italiens im Jahr 1870 biete schon von der Jahreszahl her eine Parallele zur deutschen Entwicklung. Doch anders als Berlin, das ohnehin schon die preußische Kapitale gewesen sei, habe Rom in einer etwas absurden militärischen Aktion regelrecht erobert werden müssen. Die „Heilige Stadt“ und ihr Umland wären nämlich seit dem Mittelalter als „Kirchenstaat“ in der Hand des Papstes gewesen. „Eine Mauer fällt, und eine Regierung zieht um“, heißt es im Klappentext zu Seibts Buch. Tatsächlich, erklärte Seibt, komme dem Fall der römischen Stadtmauer am 20. Dezember 1870 im nationalen Bewusstsein eine ähnliche Bedeutung zu wie hierzulande dem 9. November 1989. Doch auch die anschließende Umwandlung Roms zum italienischen Regierungssitz erinnere an deutsche Zustände. Viele Römer hätten sich die alte Zeit zurückgewünscht: „Unter dem Papst war nicht alles schlecht …“ Die politische Unterdrückung unter der päpstlichen Herrschaft habe man schnell verdrängt. Ein Problem sei auch die Arbeitsmoral gewesen. Im ökonomisch ineffizienten Kirchenstaat, so Seibt, habe es geradezu ein Recht auf Faulheit gegeben.

Moderator Ross griff das Stichwort auf: diese typische Mischung aus Schlendrian und Tyrannei erinnere doch an das alte Ostberlin! Berlin-Kenner Stephan Speicher sah das etwas realistischer: Die Subventionsmentalität der Römer, gespeist durch den von allen Katholiken zu zahlenden Peterspfennig, erinnere ihn genauso an das alte Westberlin. Auch die Entstehungsgeschichte des berühmte Nationaldenkmals für König Vittorio Emanuele bezogen die drei Journalisten dann auf Gesamtberliner Verhältnisse: Man habe jahrelang gestritten, ein ganzes Stadtviertel abgerissen und schließlich über fünfzig Jahre an dem Monument gebaut. Der riesige Komplex in der Nähe des Forum Romanum erinnere in seiner Hässlichkeit nicht nur an wilhelminische Bausünden, sondern auch ein wenig an Projekte unserer Tage.

Das Publikum, vor allem aus den Reihen der Senatskanzlei rekrutiert, amüsierte sich prächtig und genoss anschließend im Neorenaissance-Ambiente der Rathausflure den vom Hausherrn spendierten Rotwein.

ANSGAR WARNER