berliner szenen materialüberschuss

Epidemie der Rüschen

Am langen Arm hängt die Stadt in der Sonne, nur für einen einzigen Tag. Da kommen die Menschen aus ihren Häusern wie Tiere ans Licht. Jetzt gilt es, T-Shirts zu kaufen. Und Blusen. Und diese wunderbar flüchtigen Übergangsmäntel, die umso notwendiger sind, je knapper die Zeitspanne ist, in der man sie überhaupt tragen kann.

Doch schon hier entdeckt man, und es gehört nicht einmal eine besondere Disposition zur Neurose dazu, das Unmögliche in allen Dingen, oder genauer: die Rüschen am T- Shirt, die Rüschen am Blüschen. Man hätte es wissen müssen, hätte man die über das Stadtbild verteilten Plakate der HM-Frühlingskollektion etwas ernster genommen. Es handelt sich um eine Epidemie, die sich, rüschenraffend über sämtliche Textilmärkte dieser Stadt ausgebreitet hat. Um den Wunsch nach solchen fehlgeleiteten Romantizismen zu befördern, müsste die Sonne heißer auf den Kunden brennen, müsste der Verstand bereits im Spargeltopf sieden. Kopfschütteln zwischen Kleiderstange und Kabinen: Ja, wer bin ich denn, dass ich mich in ein geknöpftes, berüschtes, geblümtes Leibchen hüllen soll?

An der Schulter flattert das Stöffchen, über der Knopfleiste ballt sich der Materialüberschuss wie eine schmutzige Regung und der Kragen liegt in sanften, blöden Wellen um den Hals. Die ganze Welt krümmt sich im Landhausstil und den meisten Menschen wachsen Zöpfe.

Die Hälfte aller Berliner Hunde wird per Rüschenerlass durch muntere Zicklein ersetzt. Anstelle von Kaugummi werden Halme gekaut. Dem Wasser in Berliner Freibädern wird statt Chlor Naivität zugesetzt. Und in den Arkaden werden endlich wieder Schafe gehütet.

MONIKA RINCK