Demonstrationen in Frankreich

Nach den Schülern gingen am Wochenende linke Parteien und Gewerkschaften auf die Straße. Nach dem ersten Entsetzen werden Gemeinsamkeiten gesucht und selbstkritische Töne angeschlagen. Die Front National erhält derweil starken Zulauf

aus Paris DOROTHEA HAHN

Mehr Demonstrationen sind noch keiner Präsidentschaftswahl in Frankreich vorausgegangen. Nach tagelangen Schülerprotesten waren am Samstag Menschenrechtsorganisationen und linke Parteien und Gewerkschaften dran. Sie mobilisierten landesweit rund 200.000 Menschen. Sie eint die Absicht, den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen zu stoppen. Die Methoden, um dieses Ziel zu erreichen, sind freilich umstritten.

„Aux urnes citoyens“ – An die Urnen, Bürger! – steht auf Transparenten, die am Samstag durch Paris getragen werden. Und: „Enthaltung ebnet den Weg für Le Pen“. Andere Demonstranten wedeln mit Gummihandschuhen, um zu zeigen, dass sie ihre bevorstehende Chiracwahl nur mit klinischer Distanz ertragen können. Wieder andere rufen dazu auf, am Wahlabend vor Chiracs Hauptquartier zu demonstrieren. „Er soll wissen, dass wir uns gegen Le Pen, aber nicht für ihn entschieden haben“, sagen sie.

Anarchistische Organisationen, aber auch die meisten trotzkistischen Parteien, die vor einer Woche zusammen rund 11 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben, wollen sich nicht zu einer Wahlempfehlung für einen Rechten „erpressen“ lassen. Im Inneren dieser linksradikalen Gruppen toben heftige Diskussionen. „Natürlich ist das eine sehr schwere Entscheidung“, erklärt ein 46-jähriger Anarchosyndikalist von der CNT, „aber das Wichtigste ist die Zeit nach der Wahl. Da müssen wir präsent sein. In den Betrieben. Und auf der Straße.“

„Sicher“ erscheint den Franzosen gar nichts mehr, seit am 21. April jeder fünfte Wähler seinen Stimmzettel zugunsten von rechtsextremen Kandidaten abgegeben hat. Seither erleben die republikanischen Franzosen, dass Le Pens Front National einen nie dagewesenen Zulauf von neuen Mitgliedern erlebt. „Da sind Tabus gebrochen worden“, stellte eine Demonstrantin fest, deren Eltern aus dem Jemen und aus Algerien eingewandert sind. Niemand mag heute ausschließen, dass Le Pen am nächsten Sonntag die Wahl gewinnt.

Vor allem Angst treibt die Franzosen auf die Straße. „Hat euch Hitler nicht gereicht?“ steht auf einem Transparent. Das Thema der „Scham“, das die ersten Entsetzensdemonstrationen beherrschte, ist in den Hintergrund getreten. Jetzt geht es darum, das Gemeinsame zu suchen. „Ich liebe diese Republik, demokratisch und gemischt“, hat eine junge Frau aufgeschrieben.

Auch die Selbstkritik wird stärker. Erstmals seit Jahren nehmen größere Gruppen von Sozialisten an einem Umzug der radikalen Linken teil. „Die PS trifft die Hauptverantwortung“, sagt ein 29-jähriger Urbanist, der vor sechs Monaten Parteimitglied wurde. „Statt von Steuersenkungen, die nur Großverdiener begünstigen, hätten wir von Kaufkraft reden sollen“, kritisiert ein junger Journalist und PS-Wähler.

Das „Volk“ aber, über dessen Wahlmotive viele Demonstranten rätseln, fehlt weitgehend bei der Demonstration. Allein in den Blöcken von KPF und einigen Gewerkschaften gehen Arbeiter mit. Auch der 75-jährige André Radzynski demonstriert in den kommunistischen Reihen. Am kommenden Sonntag wird der Mann, dessen Mutter in Auschwitz und dessen Bruder in Paris ermordet wurde, und der noch nie in seinem Leben rechts gewählt hat, für Chirac stimmen: „Der ist immerhin kein Faschist.“