piwik no script img

Eine kommt durch

Intersexualität, Magersucht, Schwesternkonflikte: In Ulrike Draesners Roman „Mitgift“ kommt einiges an komplexen Problemlagen zusammen

Draesner hat Freude an den poetischen Möglichkeiten ihrer Sätze

von SABINE ROHLF

Ein Hermaphrodit, beharrliches Hungern, eine unglücklich verlaufende Schwangerschaft – Ulrike Draesners neuer Roman „Mitgift“ bietet einiges auf, um die Geschichte der Kunstmanagerin und Fotografin Aloe Böhm zu erzählen. Dabei erscheint zunächst alles so unkompliziert: Aloe verliebt sich gegen Ende ihres Studiums in den Astronomen Lukas und zieht mit ihm zusammen – eine eigentlich ganz alltägliche Liebesgeschichte. Gleichzeitig wird jedoch immer klarer, dass in Aloes Leben noch ein anderer Mensch sehr wichtig ist: ihre kleine Schwester, deren Anatomie Eltern und Ärzte dermaßen schockierte, dass die anstößig groß geratene Klitoris beizeiten unters Messer kam.

Die kleine Anita bildete mit ihren vielen Operationen und quälenden Nachbehandlungen stets den Mittelpunkt der Familie. Aloe stand neugierig und neidisch daneben. Gnadenlos wird ihre politisch höchst unkorrekte Eifersucht auf die verhätschelte Anita ausgemalt. Die Jüngere wird mit ihrer androgynen Schönheit schon als Teenager zum Model, während ihre Erlebnisse im Krankenhaus unaussprechlich bleiben. Begünstigt durch die Vertuschungsstrategien einer im Verdrängen geübten Elterngeneration wird die Beziehung der Geschwister gründlich verkorkst.

In der Verschränkung unterschiedlicher Zeitebenen (Kindheit, Jugend und verschiedene Phasen der Beziehung mit dem Geliebten Lukas) entwirft Ulrike Draesner das Psychogramm einer von dieser Familiengeschichte – der „Mitgift“ – nachhaltig blockierten Frau. Mit Anfang dreißig noch hadert Aloe mit sich und der Schwester, entwickelt eine dramatische Magersucht. Auf die Essstörung folgt die nächste Krise – Schwangerschaft, Fehlgeburt, Trennung von Lukas, während Anita ohne Schwierigkeiten ein Kind zur Welt bringt.

Die intersexuelle Schwester, durch Chirurgie und Hormontherapie zur „richtigen“ Frau und Mutter gemacht, bietet fast den ganzen Roman über die Projektionsfläche für Aloes Gedanken und Gefühle. Sie erscheint erfolgreich, geheimnisvoll, selbstbewusst. Was Anita tatsächlich denkt, fühlt und wünscht, wird erst gegen Ende des Romans in einigen Dialogen sichtbar, kurz darauf ist sie tot.

Über Aloes Körper- und Seelenkrisen erfährt man mehr. Die Leser werden über Hungergefühle, kalte Füße und Lukas’ Erektionsprobleme ebenso ausführlich informiert wie über Gespräche, Gedanken und Fantasien. Man merkt, dass Draesner, die mit Gedichten bekannt wurde, Freude an den poetischen Möglichkeiten ihrer Sätze hat. Jede Landschaftsbeschreibung, jede Sexszene, jeder Holunderzweig wird zum Anlass bilderreicher Vergleiche, Reflexionen, Assoziationen. Manchmal passt dieser Aufwand zur geschilderten Situation, doch häufiger fragt man sich, ob diese oder jene Passage nicht doch besser in einem Lyrikband aufgehoben wäre.

Es ist von allem ein bisschen viel in diesem Buch: zu viele Beschreibungen, zu viel Innensicht und Körperbespiegelung, zu viele sprachliche Schnörkel, während aus dem Konfliktpotenzial, das in Intersexualität, Anorexia nervosa oder Kinderwunsch schon jeweils für sich genommen steckt, letztlich erstaunlich wenig gemacht wird.

Die über hundert Seiten mit einer Fülle von Nahrungs- und Körperfantasien ausgemalte Magersucht ist, ruck, zuck, kuriert. Der den Roman durchtränkende Schwesternkonflikt wird kurz vor Schluss mit einer herzlichen Umarmung verabschiedet, Aloes Kinderwunsch erfüllt sich in der Adoption des Sohnes der toten Anita. Am Ende zeichnet sich sogar die glückliche Versöhnung mit dem zwischenzeitlich in eine chilenische Sternenwarte entschwundenen Lukas ab. Diese klassischen Lösungen – Heilung, Versöhnung, Mutterschaft und Liebe – wollen allerdings nicht recht zu den aufgerufenen Problemfeldern passen. Zeichnen diese sich doch gerade dadurch aus, die Normalität vertrauter Erzählmuster zu sprengen.

Wie sperrig das Sujet Intersexualität letztlich ist, wird am Ende auch in „Mitgift“ klar, wenn Anita plant, durch eine Rückoperation die gewaltsam hergestellte Weiblichkeit in das zu überführen, was sie einmal war: ein körperliches Dazwischen, weder Mann noch Frau. Oder beides. Doch für sie gibt es kein glückliches Ende, sie muss sterben, erschossen vom überforderten Ehemann. Das Happy End scheint allein für Aloe erreichbar, deren Probleme bei allem sprachlichen Aufwand in überschaubaren Bahnen bleiben. Sie geht aus dem Krisenmarathon als starke Frau hervor, die ein Kind großzieht, sich anschickt, den Verflossenen zurückzuerobern und ihre Talente als Künstlerin zu entfalten.

Dies ist eine optimistische Antwort auf familiäre Beschädigungen und weibliche Neurosen. Um eine vergleichbar versöhnliche Lösung für Anita zu entwerfen, bräuchte es jedoch eine ganz andere Geschichte.

Ulrike Draesner: „Mitgift“. Luchterhand Verlag, München 2002, 380 Seiten, 22,50 €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen