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Die Vitrine vom Rosa-Luxemburg-Platz

Im Glaspavillon an der Volksbühne kümmert sich das Projekt „Aggregat“ ums Programm. Hochfrequent wechseln die Ausstellungen alle zwei bis vier Wochen. Heute Abend wird „Punk Collection“ von Holger Emil Bange eröffnet

„Wann genau haben Sie zum ersten Mal von den Sex Pistols gehört?“

Ein übergeordnetes Konzept gibt es nicht. Alles liegt schon im Namen selbst: Das aus dem Latein kommende Wort Aggregat bedeutet so viel wie„mehrgliedriges Ganzes“ und „Anhäufung verschiedener Elemente“. Zusammengeführte Vielfalt also, das beweist schon ein kurzer Blick auf die Liste der bisherigen fünfzehn Ausstellungen und Projektabende.

Als öffentlicher Ort für junge, neue Kunst funktioniert der Glaskasten am Rosa-Luxemburg-Platz für „Aggregat“ wie eine schöne Vitrine, die ohne wirtschaftlichen Druck gefüllt und Tag und Nacht bewundert werden kann. Die intensive und weit gefächerte Nutzung hat im Pavillon Tradition. Denn bis zum Sommer vergangenen Jahres hatte das Projekt „Rampe 003“ zweieinhalb Jahre lang daraus schon eine Art Plattform gemacht, die die unterschiedlichsten Kunstformen beherbergte.

Für die Nachfolge von „Rampe 003“ waren im März 2001 mehr als 30 Projekte bei der Leitung der Volksbühne eingereicht worden. Diese stellt den Raum samt Strom und Wasser zur Verfügung. Sie unterstützt die Projektmacher außerdem, indem sie Einladungskarten druckt und verschickt und dazu Hinweise in ihr monatliches Programm aufnimmt.

Dass die diplomierte Kommunikationsdesignerin Julia Schnitzer, der Meisterschüler in Druckgrafik und heute freie Künstler Philip Grözinger und der Kunsthistoriker und DJ Holger Emil Bange schließlich die Möglichkeit bekamen, „Aggregat“ zu verwirklichen, liegt höchstwahrscheinlich an den Erfahrungen des Trios. 1999 arbeiteten sie schon in der Künstlergruppe „The Bewegungselite“ zusammen, später dann als Gastkuratoren in der Galerie Haus Schwarzenberg.

Für die Eröffnungspräsentation vor acht Monaten wurden 35 KünstlerInnen eingeladen, ihre eigene Interpretation des Begriffes „Aggregat“ auf DIN-A 3-Format zu präsentieren. Schulklassenartig hingen die Arbeiten an der einzigen Wand des sonst nur mit wunderbaren Glasfenstern ausgestatteten, 35 qm großen Raums. Gleichzeitig wurde mit dieser minimalen Art der Raumausschöpfung die materielle Basis geschaffen, nach der „Aggregat“ seitdem ständig wechselnde Bereiche wie Mode, Fotografie, Video, Malerei und Installation zeigt. Mit insgesamt nur sechs Stunden Öffnungszeit pro Woche gehört es zum Konzept, dass die Ausstellungen auch zu sehen und zu verstehen sein müssen, wenn niemand vor Ort ist.

Dass das Konzept bisher meistens aufging, liegt an der Präsenz der jeweiligen Arbeiten. So konnte Stefan Demarys Installation, die einfach aus einer Stehlampe samt unzähligen Kabeln und Mehrfachsteckdosen bestand, leicht zu allerlei poetischen Assoziationen und Metaphern einladen.

Die Landschaftbilder der in Berlin arbeitenden spanischen Künstlerin Marisa Maza blieben dagegen ohne zusätzlichen Kommentar nicht genügend entzifferbar. Ohne zu wissen, dass Maza Fotografien digital bearbeitet hatte, die sie vom Flugzeug aus aufgenommen hatte, konnte der Betrachter nicht ahnen, dass die zunehmende Verwechslung von Simulation und Realität thematisiert sein sollte. Stattdessen sah er nicht viel mehr als Aufnahmen in grellen Farben, die sowohl grönlandische Gebirgslandschaften, Nasa-Bilder vom Mars als auch langweilige Dekorationen aus Flugsimulationsprogrammen oder Videospielen hätten sein können.

Zur Philosophie des Trios gehört weiter das simultane Praktizieren unterschiedlicher Rollen wie der des Vermittlers, des Künstlers bzw. des Kunsttheoretikers. Nachdem Julia Schnitzer ihre Fotografien über städtische Transiträume und Philip Grözinger seine Druckarbeiten, die direkt auf dem extra dafür geschaffenen Linoleumboden realisiert wurden, gezeigt haben, präsentiert ab heute Abend Holger Emil Bange mit „Punk Collection“ Zeitschriftenartikel und Radiomitschnitte aus den Jahren 1977/78 zum Thema Punk.

Hier geht es nicht nur um Musik- und Kulturgeschichte, sondern auch um ein Stück individueller Biografie, wobei die Antwort auf die Frage „Wie genau haben Sie zum ersten Mal von den Sex Pistols etwas gehört?“ auf einen allgemeinen, wohl komplexen Einweihungsprozess hinweist, der bei der Generation X beziehungsweise Golf rückblickend jeweils rebellische, pubertäre oder nostalgische Züge trägt. Oder zufällige.

1977 war der zehn Jahre alte Bange mit seinen Eltern im Urlaub in der Rhön. Als er am Schwimmbecken in der Jugenzeitschrift Bravo blätterte, erfuhr er, dass die Sex Pistols damals als „meist gehasste Rockband der Welt“ galten. Den Grund für diesen Hass wollte Banges drei Jahre ältere Schwester ihrem ahnungslosen Bruder allerdings nicht verraten. Der Vater tat’s, wenn auch ohne es zu wissen, als er im Spätsommer seinen Sohn darauf hinwies, dass die Kultursendung „aspekte“ ein Interview mit Mick Jagger zeigen würde. Als der Held des Sixties-Rebellentums über die damaligen, immer mehr Lärm machenden Punkbands gefragt wurde, antwortete er: „Noch nie etwas davon gehört.“

Schade für ihn, aber ein Glück für Bange, der an diesem Abend zum ersten Mal einen kurzen Live-Mitschnitt eines Konzerts der Sex Pistols sah. Am Tag darauf kaufte er sich „Pretty Vacant“. Seine erste Punk-Platte. Kaum ein Jahr später hatte er schon mehr als 80 Artikel von Bravo, Pop oder Popfoto gesammelt, die sich mit der damals ziemlich neuen Erscheinung beschäftigten. Diese wie Reliquien aufbewahrten Spuren einer „brutalen und hässlichen Kultur aus den Slums“, wie der Spiegel 1978 seine Titelstory nannte, werden jetzt für vier Wochen die Fenster des Pavillons dekorieren. Falls diese heute nicht zu Bruch gehen. Man weiß es nie. Punk is not dead.

YVES ROSSET

Holger Emil Bange: „Punk collection“, im Glaspavillon der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, bis 28. Mai, Fr., Sa., So. 17.30–19.30 Uhr. Mehr unter: www.aggregat-3.de

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