Keine Hilfe aus Überhaching

Psychologie der Stimmungen: Bayer Leverkusen ist 66 Minuten lang Erster und fügt sich dann nach dem 2:1 gegen Hertha mit souveräner Routine ins gewohnte Schicksal Vizemeisterschaft

aus Leverkusen BERND MÜLLENDER

Was man so sagt nach einer siegreichen großen Niederlage: Man ist enttäuscht, traurig, frustriert. Die Gesten dazu: Schulterzucken, den Kopf schütteln oder einfach senken, der leere Blick in die Ferne. „In der Kabine haben wir zusammen geheult“, sagte Klaus Toppmöller, der Trainer der Leverkusener, aber es klang nicht, als hätte man nachher aufwischen müssen. Reiner Calmund, der Manager des Niemeisters, lief herum wie ein nasser Sack in seinem unförmigen Anzug über dem unförmigen Körper und ließ die Stimme stocken. Auch er hatte Tränen in den Augenwinkeln. Calmund kennt das Gefühl als Zweiter besser als alle anderen. Es ist sein vierter Vizemeistertitel.

Nichts war unversucht geblieben: Die Mannschaft hatte, lockerer als es ein 2:1 ausdrückt, das Match nach Hause geschaukelt. Das Stadion war zeitweilig lauter als am Dienstag gegen Manchester. Die Fans hatten sich vorher nette Gedanken gemacht: „An die Götter dieser Welt“, stand auf einem großen Transparent, „wo bleibt die Gerechtigkeit?“ Nun hat Fußball, wie man überall außerhalb Leverkusens weiß, prinzipiell wenig mit Gerechtigkeit zu tun; und ob es Allah irgendwann richten könnte mit einem Meistertitel für die kleine Stadt mit dem großen Fußball oder Zeus oder die christliche Familienkoalition Gottvater, Gottsohn, Gottenkel, gar eine kulturumspannende Gottheitenkoalition unter Führung des unbekannten Fußballgottes? In Leverkusen würden sie auch den Leibhaftigen akzeptieren. Samstag reichte es zur längsten Meisterschaft der Klubgeschichte an einem letzten Spieltag: Bayer war volle 66 Spielminuten, respektive 81 Zeitminuten lang von 15.40 Uhr bis 17.01 Uhr deutscher Meister. Vereinsrekord.

Die 81 Minuten hatten merkwürdige Momente. Aufregend jene Sekunden, als Bremens 1:0-Führung in die Arena gespült wurde. Euphorie drohte. Die Stimmung kippte nachhaltig um 16.13 Uhr, und das mit einem Moment heftigen Jubels: „Tor in Dortmund“. Erster Reflex bis hinunter zur Trainerbank: 0:2, weil der Reporter angehoben hatte: „Tor in Dortmund: 2 …“ Aber statt 2:0 sagte er weiter „… 2 Meter 2 ist er groß: Jan Koller.“ Also 1:1 – eine doppelte Enttäuschung in Sekundenschnelle. Ein Extraschock. Eine Extragemeinheit.

Immer noch war Bayer Erster. In der Halbzeitpause und eine lange halbe Stunde danach. Aber so recht glaubte niemand an das Wunder. Obwohl man besser dastand als vorher. Auch der Angsttransfer hatte nicht eingesetzt: Mit der rechnerischen Tabellenführung hatte man es ja schließlich wieder selbst in der Hand zu versagen. Wie in Unterhaching – damals.

Der Abschuss kam um 17.01 Uhr. Man nahm es zur Kenntnis wie die Regenfront aus dem Westen, die in diesen Minuten die BayArena erreichte. Toppmöller zündete sich augenblicklich ironisch grinsend eine Zigarette an, zu diesem „kleinen Hammerschlag“. Die Nordtribüne versuchte es mit kontinentalironischem Trotz: „In Europa kennt uns keine Sau.“ Nutzt national auch nichts. Da kennt man Bayers Routinerolle: Platz 2.

Man ist das Versagen gewöhnt (solches wie an den vergangenen zwei Spieltagen), auch Trauern ist Routine geworden. Doppeltorschütze Michael Ballack: „Jetzt müssen wir schnell wieder aufstehen.“ Calmund: „Wir haben noch zwei Finale.“ Das in Glasgow gegen Real Madrid zum Beispiel: „Das ist kein Trost“, sagt Toppmöller. Selbst im Siegfall nicht: „Priorität hatte die Meisterschaft.“ Weniger, sie mal zu gewinnen. Mehr, um den Fluch abzustreifen, sie nie zu schaffen. Dass keiner mehr singen kann: „Ihr werdet nie deutscher Meister.“

Carsten Ramelow sagte: „Ja, es geht weiter.“ Ob es ein Trost sei, dass die meisten Fußballfreunde Leverkusen den Titel gegönnt hatten wegen des schönen Fußballs? „Nicht richtig. Man muss was in der Hand halten.“ Auf besonders perfide Weise hatten sie die Entscheidung wirklich nicht selbst in der Hand. Denn sogar Dortmunds Gegner Werder Bremen war ihr eigener gewesen: Deren Torwart Frank Rost offenbarte spät am Abend, Werder habe vom Trainergespann Anweisung gehabt, in den letzten fünf Minuten nicht weiter anzugreifen und das 2:2 zu versuchen. Lieber das 1:2 sichern. Weil ihnen die knappe Niederlage für die Uefa-Cup-Qualifikation reichte, solange Konkurrent Kaiserslautern in Stuttgart zurücklag.

Es ist schon herzlich ungerecht mit dem Fußball. Auch das schönste Leverkusener Plakat nutzte nichts, die innigste Variante, den Fluch mit eigenen Mitteln zu besiegen. Ganz schlicht stand da groß geschrieben: „Überhaching“.

Bayer Leverkusen: Butt - Sebescen, Lucio, Placente - Schneider, Ramelow, Ballack, Bastürk (90. Babic), Zé Roberto - Neuville (72. Berbatow), Kirsten (46. Vranjes) Hertha BSC: Kiraly - Schmidt (29. Marx), van Burik, Simunic, Hartmann - Dardai, Goor (61. Neuendorf), Beinlich, - Alves, Preetz, Marcelinho (79. Deisler) Zuschauer: 22.500; Tore: 1:0 Ballack (10.), 2:0 Ballack (52.), 2:1 Beinlich (83.)