: Gesichter und Namen statt blinder Flecken
„Anschläge“ – eine neue Ausstellung am Bauzaun der Topographie des Terrors – eröffnet. Sie dokumentiert Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland seit 1990. Auf das Konto von Neonazis gehen über hundert Tote
Die Gesichter der drei Männer auf den schwarzweißen Fotos am Bauzaun der Topographie des Terrors könnten nicht unterschiedlicher sein. Ein junger Punk im Profil, dem die Haarsträhne übers Auge fällt. Ein 60-jähriger Rentner mit sorgfältig gestutztem Oberlippenbart, der dem Betrachter offen entgegenlächelt. Und ein Berliner Sozialhilfeempfänger, dessen skeptischer Blick von einer wilden Lockenmähne eingerahmt wird. Falko Lüdtke, Helmut Sackers, Dieter Eich – drei von 119 Todesopfern rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung, die in der gestern eröffneten Ausstellung „Anschläge“ von Studierenden der Kunsthochschule Weißensee dokumentiert werden. Drei Männer, deren Lebens- und Todesumstände den Vorübergehenden in kurzen Sätzen auf Deutsch und Englisch auf den blauen Tafeln entgegenspringen.
Drei von Neonazis innerhalb von vier Wochen begangene Tötungsdelikte aus dem Jahr 2000: Helmut Sackers wurde am 29. April 2000 im sachsen-anhaltischen Halberstadt im Treppenhaus eines Plattenbaus erstochen. Der engagierte Sozialdemokrat hatte zuvor die Polizei gerufen, weil der spätere Täter laute Neonazimusik, darunter das Horst-Wessel-Lied, gespielt hatte. Knapp drei Wochen später wird am 25. Mai in Berlin-Buch der Sozialhilfeempfänger Dieter Eich von vier Naziskins in seiner Wohnung zusammengeschlagen und erstochen. Als Motiv nennen die Täter, die zuvor an Kameradschaftsabenden des notorischen Neonazis Arnulf Priem teilgenommen hatten, sie wollten „einen Assi klatschen“. Sechs Tage nach dem Tod von Dieter Eich wird in Eberswalde am 31. Mai der 22-jährige Punk Falko Lüdtke überfahren, als ihn ein Rechter bei einer Prügelei auf die Straße stößt. Falko Lüdtke hatte ihn zuvor wegen des offensichtlicher Hakenkreuz-Tätowierung verbal kritisiert.
„Es geht es darum, dass die Toten namhaft gemacht werden,“ sagt Andreas Nachama, Leiter der Stiftung Topographie des Terrors. Mit wenigen Worten spannt er dann einen Bogen zwischen der sich seit nunmehr sieben Jahren hinziehenden Auseinandersetzung um die Neugestaltung der Topographie, deren Fertigstellung bis Mai 2005 Nachamas Worten nach erneut gefährdet ist, und dem politischen Umgang mit den Folgen rechtsextremer Gewalt. „Verdrängung, Wegsehen, an den Rand drängen, verleugnen“, sind Nachamas kritische Stichworte. „Oft sagen Besucher der Topographie, sie hätten die Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus noch nie gesehen.“ Ähnliches gelte auch für die neuen Bilder, die bis zum 23. Juni gegenüber den früheren Zellenbauten der Gestapo am Bauzaun zu sehen sind.
Nur bei einem Drittel der Opfer rechter Gewalt ist es Ausstellungsmacherin Rebbeca Forner gelungen, Fotos zu finden. „Blinde Flecke“, dokumentiert durch schwarzweiß gerasterte Platten, verweisen auf diese Schwierigkeit. Daneben hängen Spiegel, versehen mit den Unterschriften „Täter“, „Opfer“ und „Zuschauer“, „vor denen sich die Vorbeigehenden die Frage stellen können, welche Rolle sie einnehmen können“, erklärt die Studentin der Kommunikationswissenschaften. Mit Postkarten aus allen Regionen Deutschlands, die unter den Fotos der Toten „das Image Deutschlands nach Außen“ symbolisieren, will Rebecca Forner daran erinnern, „dass die Realität rechter Gewalt überall in Deutschland stattfindet“. Andere Aspekte dieser Realität zeigen die Arbeiten von sechs weiteren Studenten und Studentinnen, die sich mit Rassismus in der Alltagssprache, rechter Präsenz im Internet, der Berliner Flüchtlings- und Ausländerpolitik und der Angst von Nichtdeutschen in Alltagssituationen beschäftigen.
Auch wenn die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Ausstellung „Anschläge“ finanziell fördert: Der Umgang des Berliner Senats mit den Todesopfern rechter Gewalt in der Stadt sei „eine Geschichte der Verdrängung“, sagt ein Sprecher der Autonomen Antifa Nordost. Denn Dieter Eich wird in keiner offiziellen Statistik als Opfer neonazistischer Gewalt anerkannt. Das will ein Bündnis aus Obdachloseninitiativen, Antifagruppen sowie Opferorganisationen ändern. Am 25. Mai, dem zweiten Todestag von Dieter Eich, rufen sie zu einer Demonstration in Berlin-Buch auf. HEIKE KLEFFNER
Weitere Infos: www.anschlaege.de, www.dieter.eich.de.vu
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