: Lernt von den Zurückgebliebenen!
Oscarverdächtig, aber keine Gefahr fürs Vorurteil: In „I am Sam“ gibt Sean Penn den geistig behinderten Vater, dem das Sorgerecht für die Tochter entzogen wird. Der Schauspieler schöpft aus den mimischen und gestischen Codes, die Hollywood für die Darstellung von Behinderung festgelegt hat
von TOM HOLERT
Wie man Ordnung schafft: Hände in Großaufnahme sortieren Zuckertütchen in kleinen, gläsernen Tischtrögen. Die hellblauen zu den hellblauen, die rosa zu den rosa Tütchen, und alle schön aufrecht. Dann die Kaffeebecher. Manche von ihnen stehen nicht korrekt in der Reihe, die Ausrichtung der Henkel ist uneinheitlich. Und das „Starbucks“-Logo soll zu sehen sein. Die Hände bringen alles in die richtige Position, damit kein störendes Element übrig bleibt.
Aber es handelt sich nicht um den ambitioniert geratenen Werbefilm eines globalen Kaffeeausschankkonzerns, sondern um die Anfangssequenz eines Hollywoodkinoprodukts, in dem alles auf die schematischste Weise an seinem Platz ist. „I am Sam“ schickt seine Figuren mit modisch wackelnder Kamera fortwährend in Situationen, in denen sie ihre Befähigung zu Ordnung und Konformität nachweisen sollen, obwohl alle äußeren und inneren Voraussetzungen dagegen sprechen, dass dies gelingen könnte. Der Film der Regisseurin Jessie Nelson ist das Musterbeispiel einer Hollywood- Versuchsanordnung, die den Testpersonen auf und vor der Leinwand kaum eine Chance lässt, sich dem Klammergriff des Klischees und der Gefühlsmanipulation zu entwinden.
Kaum zufällig gleicht die Szene mit den Zuckertütchen und den Kaffeebechern einer Aufgabe in einem Intelligenztest. Was gehört dazu, was gehört nicht dazu? Die Hände des Probanden gehören zu Sean Penn, dem bekannten Schauspieler, der in seiner Karriere dreimal für den Oscar nominiert war. Penn spielt Sam, den geistig behinderten Erwachsenen, der die Welt wie ein Siebenjähriger wahrnimmt und zudem Symptome von Autismus aufweist. Die Kamera heftet sich an die Mienenakrobatik des Schauspielergesichts, das darzustellen versucht, wie sich Sam als von freundlichen Chefs geduldete Hilfskraft bei „Starbucks“ seinen Job organisiert: Tütchen zu Tütchen, Becher zu Becher.
Man hat Ähnliches in diesem Jahr schon gesehen, unter vermeintlich umgekehrtem Vorzeichen: Als Nobelpreisträger John Nash versuchte Russell Crowe in „A Beautiful Mind“ im popkulturell ausgeleuchteten Grenzgebiet von Genie und Wahnsinn mit mathematischen Formeln auf bleigefassten Fensterscheiben und einer geheimnisvollen Zettelwirtschaft für Ordnung in seinem Kopf zu sorgen. So wie der Mengentheoretiker mit der paranoiden Schizophrenie im Film durch die Liebe seiner Frau gerettet und zur späten Nobelpreisverleihung nach Stockholm geführt wird, bringen den geistig behinderten Sam die Liebe seiner Tochter und die Lieder der Beatles („All You Need Is Love“) in die Nähe des Sorgerechts.
Vor allem aber soll Sean Penns Performance anschaulich belegen, dass dieser Mann nicht nur geliebt werden kann und das kleine Einmaleins des Popsongs gelernt hat, sondern selbst zu lieben im Stande ist. Denn im ideologisch-melodramatischen Universum dieses Films ist Liebesfähigkeit alles, was Menschen bleibt, die den Intelligenzanforderungen der Normalgesellschaft nicht entsprechen; und zudem das einzige verfügbare kulturelle Kapital, das geistig behinderte Väter möglicherweise auch in die rechtliche Lage versetzt, ein Kind aufzuziehen, das ihnen in der Entwicklung der „Intelligenz“ voraus ist.
Hier nämlich liegt Sams besonderes Problem: Ihm soll die siebenjährige Tochter (Dakota Fanning) in dem Moment genommen werden, als sie seinen angenommenen IQ-Level überschreitet. Und weil der Umstand, dass die beiden sieben Jahre allein zusammengelebt haben, ohne dass sich die staatlichen Behörden daran gestoßen hätten, ohnehin schon reichlich unwahrscheinlich ist, willigt auch noch eine gestresste Staranwältin (Michelle Pfeiffer) ein, kostenfrei sein Mandat zu übernehmen. Da sie ebenfalls ein Kind hat, dem sie allerdings weitgehend entfremdet ist, fällt der Porschefahrerin im Powerkostüm im Laufe des Prozesses um Sams Sorgerecht auf, dass sie ihrer Mutterrolle nicht gerecht wird. Auch hier dient die Figur des geistig Behinderten als reiner Quell authentischer Liebesintuition. Schaut her, sagt dieser Film, lernt von den Zurückgebliebenen. Und wehe, wenn diese einmal schlecht gelaunt sind oder gar hassen! Das werden wir nicht zulassen.
Grausam konsequent steuert Sean Penn auf dieser Basis mit aufgerissen-traurigen Augen, fahrig-hölzernen Körperbewegungen und verstrubbeltem Haar durch das ganze gestische und mimische Repertoire, das die Filmgeschichte für Rollen wie diese angelegt hat: Dustin Hoffman in „Rain Man“, Harrison Ford in „Regarding Henry“, Tom Hanks in „Forrest Gump“ und viele mehr.
Ein Schauspieler kann populäre Triumphe in der Repräsentation der Behinderung feiern. Dabei stützt er sich, um überzeugend zu wirken, gemeinhin auf das Alltagswissen über Menschen, die „geistig behindert“ genannt werden. So haben sich ein mimischer Code und eine filmsprachliche Konvention entwickelt, um das Thema auf eine Weise zu vermitteln, dass Mitleid und Überlegenheitsgefühl sich zu wohlig-nachdenklicher Betroffenheit verbinden, die kein Vorurteil ernsthaft gefährdet.
„I am Sam“ darf getrost als ein Tiefpunkt dieses Hollywoodprojekts der Beförderung von Bildern geistiger Behinderung in die massenkulturelle Zirkulation angesehen werden. Bis in die Nebenfiguren hinein dominieren Stereotypien. Der kleine Freundeskreis, der sich um Sam gebildet hat, erfüllt so manches Freakshowbedürfnis: ein Paranoiker, der überall Mikrophone wittert; ein tuntiger Filmbuff, der sich pausenlos in seinem Wissen verheddert; eine Konzertpianistin, die seit Jahren das Haus nicht mehr verlassen hat.
Und obwohl „I am Sam“ als klassischer „weepy“, als Heulfilm, angelegt ist, der sogar seine Figuren Vorbilder aus dem Minigenre der Sorgerechtsfilme wie „Kramer vs. Kramer“ zitieren lässt, bewegt er sich in unfreiwilliger Nachbarschaft zur Brachialkomödie. Denn dieser Randgruppenkitsch ist seinerseits strukturell und ästhetisch so dumm, dass hinter dem pseudo- sensiblen Porträt der Behinderung das Schulhof- und Popkulturklischee des „moron“, „retard“ oder „pinhead“ hervorlugt. Wenn Dummheit sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, der Illusion der eigenen Intelligenz und moralischen Richtigkeit aufzusitzen, dann hat die Selbstgerechtigkeit von „I am Sam“ vielleicht verdientermaßen zur Folge, dass sich die eine oder andere Teeniekomödie an den hier bereitgestellten Repräsentationen der Behinderung bedient.
Sean Penn demonstriert ja selbst, wie das „sensomotorische Gedächtnis“ (Michael Palm/Drehli Robnik) des Hollywoodkinos funktioniert, indem er sich von der Kleidung bis zur Körpersprache an Dustin Hoffmans Autistendarstellung in „Rain Man“ orientiert. Ermöglicht eine solche plumpe Adaption sogar die Oscar-Nominierung, dann würde es auch nicht verwundern, wenn sie als Zitat in den Niederungen des „Dumb and dumber“-Kinos, bei den „American Pie“- oder „Jeepers Creepers“-Ausgrenzungskomödien fortlebt.
Freilich liegt ein Kategorienfehler vor, sobald man die Frage nach den Kinorepräsentationen von Dummheit und Dummköpfen (die sich komplementär zu denen von Hochbegabten, Wunderkindern, Genies usw. verhalten) mit der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit adäquater Darstellung von geistiger Behinderung im Film verknüpft. Die Dummheit, gescholten und bewundert von den größten Geistern, hat sich in der postmodernen Kultur zu einem Ort von radikalen Verweigerungsstrategien und faszinierender Opakheit entwickelt. Wegen ihrer stummen und blinden Aggressivität plagt die Intelligenz und das Wissen eine Heidenangst. Vielleicht wurde deshalb in den letzten Jahren die Dummheit so vehement kommerzialisiert, tauchten Figuren eines frenetischen Niedrig-IQ-Kults wie Verona Feldbusch oder „Big Brother“-Zlatko in der ökonomisierten Öffentlichkeit auf. Sie machten die Dummheit verfügbar und kontrollierbar (oder erzeugten zumindest dahingehende Illusionen). Derart domestiziert, werden Dummschlaue und Dummdreiste als Index kultureller Zustände geduldet.
Die Dysfunktionalität einer Figur wie Sam aus „I am Sam“ dagegen stellt eine andere Herausforderung dar, ihr „handicap“ verlangt nach anderen kulturindustriellen Maßnahmen der Integration. Mit narrativen und kinematografischen Mitteln muss Sam nachgewiesen werden, dass er nicht Symptom eines gesellschaftlichen Bedingungszusammenhangs ist, sondern Ausdruck einer ganz und gar individuellen Pathologie.
Denn in der Regel ist die oder der geistig Behinderte im Hollywoodkino in einen Status eingeschlossen, der ihnen (soziale, politische) Handlungsfähigkeit nur in kleinen Dosierungen erlaubt – es sei denn, der Regisseur heißt beispielsweise Milos Forman und dreht in einer anderen Zeit einen anderen Film wie „Einer flog über das Kuckucksnest“. In „I am Sam“ aber gibt es kein Entkommen aus der Zuschreibung „geistig behindert“. Sam darf nicht einmal dumm sein. „I am stupid“, beharrt er an einer Stelle. Das Drehbuch widerspricht energisch: „No, you're not.“
„I am Sam“. Regie: Jessie Nelson. Mit Sean Penn, Michelle Pfeiffer, Dakota Fanning u. a., USA 2002, 130 Min.
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