Nation ohne Skandal

von RALPH BOLLMANN

Bei Helmut Kohl wäre der Skandal perfekt gewesen. Der Kanzler diskutiert mit dem umstrittenen Schriftsteller Martin Walser? Über Deutschland als „normale Nation“? Und das auch noch am Jahrestag des Kriegsendes? Längst wäre die Empörung hochgeschwappt, hätten Heerscharen von Journalisten die Frage hin und her gewendet: Darf der das?

Aber seit vier Jahren regiert Rot-Grün, der diskutierende Kanzler heißt Gerhard Schröder – und der große Aufschrei bleibt aus. Erst zehn Tage nachdem die Einladung in den Redaktionen eingetrudelt ist, kommt zaghafter Protest: Die „Aktion Sühnezeichen“ findet den „Zuschnitt dieser Veranstaltung“ problematisch, und Michel Friedman, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, sieht „die Glaubwürdigkeit Schröders“ relativiert.

In den vier Jahren Rot-Grün hat sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation so grundlegend verändert wie zuvor in Jahrzehnten nicht. Nach dem Krieg hatte den Westdeutschen nur ein konservativer Kanzler wie Konrad Adenauer die postnationale Bundesrepublik schmackhaft machen können – gegen den Widerstand des national denkenden Sozialdemokraten Kurt Schumacher. Nur einer Linksregierung konnte es nach 1990 offenbar gelingen, die Öffentlichkeit mit einem Nationalstaat auszusöhnen, den aus der mittleren bis jüngeren Generation im Westen kaum jemand wollte.

Und es funktionierte, gerade weil sich Kanzler Gerhard Schröder für geschichtspolitische Fragen – anders als der Historiker Kohl – zunächst nicht sonderlich interessierte. Allenfalls Außenminister Joschka Fischer hatte intellektuelle Vorarbeit geleistet, als er 1994 in seinem Buch „Risiko Deutschland“ für eine selbstbewusste Artikulation deutscher Interessen eintrat – ein Verständnis der deutschen Rolle in der Welt, das Schröder später umstandslos übernahm.

Die rot-grüne Geschichtspolitik, die im Rückblick so schlüssig erscheint, entwickelte sich in einer Folge von spontanen Reaktionen auf Ereignisse, die von der amtierenden Bundesregierung gar nicht zu beeinflussen waren. So war der Regierungsumzug nach Berlin längst beschlossene Sache. Wäre aber noch Helmut Kohl persönlich in das neue Kanzleramt am Spreebogen eingezogen, hätte allein dieses Faktum eine erregte Debatte über eine Rückkehr großdeutscher Gespenster ausgelöst.

Stattdessen sprachen nun Sozialdemokraten munter von der „Berliner Republik“. In diesem Begriff drückte sich keine affirmative, sondern eine kritische Aneignung der Nation aus – wiederum verstärkt durch Debatten, die das neue Kabinett nur geerbt hatte. Der Beschluss zum Bau des Holocaust-Mahnmals, der Weiterbau der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ mit Bundesmitteln, die Übernahme des Jüdischen Museums in Bundesregie, dazu die längst überfällige Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter: Diese Form der Vergangenheitspolitik war keineswegs ein Kontrapunkt zur neuen Herrlichkeit der „Berliner Republik“, sondern integraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses – ganz so, wie sich auch die drei Gedenkstätten zum integralen Bestandteil der neuen Hauptstadt entwickeln.

Zu dieser neuen Erinnerungskultur passt es, dass der Kanzler ausgerechnet am 8. Mai über die „normale Nation“ diskutiert. So wird das Kriegsende, als Tag der Befreiung von Nationalsozialismus, zu einem positiven Anknüpfungspunkt des deutschen Selbstverständnisses. Der politischen Rechten hingegen galt das Kriegsende stets als Tag der Niederlage – erst Richard von Weizsäcker scherte 1985 aus diesem Konsens aus.

Was die deutsche Linke unter Kohl attackiert hatte, war gerade dieses altdeutsche Verständnis der Nation. Was sich die rot-grüne Republik nun aneignete, war ein demokratisches, ein westliches Verständnis dieses Konzepts. An keinem Punkt wurde das so deutlich wie bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die das Abstimmungsprinzip – zumindest im Grundsatz – durch das Geburtsprinzip ersetzte. Mit dem Eingeständnis, Deutschland sei ein „Einwanderungsland“, folgte kurz darauf der zweite Paradigmenwechsel. Zunächst sogar mit dem Einverständnis der Union, die zur Ablenkung ihrer rechtskonservativen Wähler eine Debatte über deutsche „Leitkultur“ anzettelte.

In der Außenpolitik fiel den Regierungsparteien der Wechsel zu einem neuen Selbstverständnis schwerer. Frostig-beklommen war die Stimmung auf den Pressekonferenzen, bei denen rot-grüne Politiker die Bundeswehreinsätze im Kosovo oder in Afghanistan verkündeten. Die Militäraktionen übertrafen alles, was unter Kohl denkbar war – und das unter einer Regierung, in der nicht wenige Kriegsdienstverweigerer saßen.

Aber selbst die Gegner der Militäreinsätze verzichteten im Streit um Afghanistan auf ein Argument, das noch beim Kosovokrieg oft genug bemüht wurde: auf die NS-Vergangenheit als moralischen Wegweiser für die Tagespolitik. Haben die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg kein Recht mehr zu militärischer Intervention, wie die Pazifisten behaupteten? Oder haben sie nach Auschwitz sogar die Pflicht, gegen Verletzungen der Menschenrechte einzuschreiten – wie Joschka Fischer und Rudolf Scharping damals glauben machten?

Die Walser-Debatte, die im Jahr vor dem Kosovokrieg begann, bewegte sich noch in diesen alten Argumentationsmustern. Als der Schriftsteller am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche sprach, war die rot-grüne Bundesregierung noch nicht einmal vereidigt. Heute fände Walser kaum noch einen Anlass, die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ zu beklagen. Seine Feststellung aber, dass „in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie noch nie zuvor“, trifft nach vier Jahren Rot-Grün mehr denn je zu. Und das ist, um es mit einem sozialdemokratischen Bonmot zu sagen, auch gut so.