: Nur die Liebe zählt
Wo immer, wann immer! Auf Hörreise durch die befremdliche Welt der deutschen Singlecharts-Top-Ten: Ein Selbstversuch im Hitwellenreiten
von ANDREAS MERKEL
Meine letzte Single habe ich mir gekauft, als ich krank war. Ich guckte nachts schlaflos MTV, stieß auf einen poppigen Song der Schwedenband Eskobar und schleppte mich am folgenden Tag schwer vergrippt zum nächstgelegenen Pro-Markt (natürlich kauft man sich so was nicht im Fachhandel!), vor das Charts-Regal: Die Top Ten, das Herzstück des Pop!
Früher, als Teenager, hätte ich die Top Ten auswendig rückwärts aufsagen können. Jetzt kannte ich noch nicht einmal die Häfte der Songs, von einigen der Interpreten hatte ich noch nie gehört. Wer sind „Mad’house“? Was zum Teufel ist „Ben featuring Gim“?
Was war passiert, fragte ich mich. Bin ich noch Pop? Oder Deutschland? Um mich zu vergewissern, beschloss ich, eine Reise in die Welt der deutschen Singlecharts zu unternehmen. Ich besorgte mir die aktuellen Top-Ten-Singles (Stichtag 22. April) und dazu die Bravo, in der sich Hintergrundberichte über sämtliche Chart-Protagonisten finden. Von den Plattenfirmen und aus dem Internet versorgte ich mich mit weiteren Informationen.
Wenn sich aus all dem auch noch so etwas wie ein Psychogramm der Pop-Nation ablesen lassen sollte, dann beginnt dieses auf jeden Fall mit dem Selbstbewusstsein auf dem Dancefloor. Auf Platz 10 befindet sich die Boygroup ’N Sync, die ich bisher kaum von ähnlichen Formationen wie Backstreet Boys, Westlife oder O-Town unterscheiden konnte und wollte. Ihre Single „Girlfriend“ ist eine erfrischend spärlich instrumentierte R’n’B-Nummer: Es gibt lediglich ein hispanisch angehauchtes Gitarrensample und einen HipHop-Beat, die die inbrünstige Liebeswerbung unterstützen. Die fünf Mitglieder von ’N Sync singen, rappen, schmachten im Chor ein Mädchen an, das sich bislang noch in den Händen eines anderen zu befinden scheint, dem jedoch – glaubt man Justin, J. C., Joey, Lance und Chris – finstere Zeiten bevorstehen dürften: „Dein Typ bringt es nicht?“, übersetzt die Bravo den Text ins Deutsche, „Mach keine Fehler und vergeude deine Zeit nicht / Mit einem Bauerntölpel, also komm schon“! Denn „Check es, check es / Er will dich nicht, wie ich dich will“.
Unterstützt werden N’Sync vom Southside-Rapper Nelly, und der Refrain bleibt sofort im Gehörgang stecken. „’Cause if you were my girlfriend / I’d be your shining star“ summe ich noch Tage später meiner Freundin vor. Allerdings tragen ’N Sync, völlig frei von Selbstzweifeln, dann vielleicht doch ein wenig zu dick auf. „Ich werde dein Seelendoktor sein, Kleines / Ich kümmere mich um das, was du denkst / Ich habe den rosa Bentley gekauft / Weil meine Kohle dafür reichte.“ Werden sie das Mädchen also kriegen? Wahrscheinlich nicht.
Das heißt, wenn man sich Platz 9 anguckt, vielleicht doch: Wenn die Mitbewerber nämlich Nickelback heißen sollten. Die sind bereits einundzwanzig Wochen in den Charts und so ziemlich das genaue Gegenteil von ’N Sync. Machen geradlinigen Alternative-Rock, sehen scheiße aus und bemühen sich, auf MTV einen schwer nachdenklichen Eindruck zu machen. Der Sänger sieht in dem Video zu „How you remind me“ aus wie ein Jesus-Double in einer billigen Jeans-Reklame. Er singt über eine trotz allem kraftvoll gerockte Hookline, dass du ihn daran erinnerst, wer er wirklich ist, und dass er es aber nie geschafft hat, ein weiser Mann zu werden, und stattdessen immer bloß down gewesen ist, und zwar bis auf den Grund jeder Flasche. Konsequenterweise wird die Frage „Are we having fun yet?“ dann auch verneint.
Nickelback sind auf ihre Art natürlich genauso verwechselbar wie ’N Sync. Sie und andere Grunge-Epigonen wie Creed oder Staind, die erfolgreich unentschlossen Kurt Cobains Erbe verhökern, machen Musik, wie sie von Freizeit-Muckern mit für den Hausgebrauch radikal runtergeschraubten Ansprüchen gut gefunden wird. Oder, wie „unogti aus Neidefelz“ auf amazon.de findet: „Eines der besten Lieder, die es im Moment gibt. Die harten Riffs überzeugen genauso wie die rockig-raue Stimme von Frontman Chad Kroeger. Ein Muss für jeden Fan der etwas härteren Gangart.“
Auf Platz 8 der deutschen Charts dann der erste deutsche Song: „Wo willst du hin?“ von Xavier Naidoo. Es handelt sich um ein mit melodischen Streichern zurückhaltend orchestriertes Liebeslied, in dem nicht ganz klar wird, ob die gefährdete große Liebe erst noch gefunden, wieder gefunden oder am Fortgehen gehindert werden muss. Um diese Ambivalenz auszuhalten, bedient sich Naidoo einer fast schon biblischen Metaphorik, um die Allmacht seiner Gefühle zu beschwören: „Ich werd dich suchen, muss dich finden, in alle Länder fall ich ein / Muss mich an deine Wege binden, dreh und wende jeden Stein.“
Ganz sicher erweist sich Xavier Naidoo dabei als der versierteste, einfühlsamste Sänger in den Charts, der sein Talent auch ohne jede Scheu einsetzt. Naidoo verzichtet fast vollkommen auf Ironie (wenn man einmal von dem Obelix-Video zu „Sie sieht mich nicht“ absieht), und dass so jemand ein Kiffer vor dem Herrn ist und dass das alles tatsächlich aus Mannheim kommt – das findet man dann fast schon wieder gut. Der Sänger ist schwer gläubig, und drängt manchem Hörer gerade darum vielleicht sogar ernsthaft den Gedanken auf: Gott ist tatsächlich tot.
Doch Naidoos Musik kann man nur so lange gut finden, bis man auf Platz 7 Celine Dions „A new day has come“ gehört hat. Wie Naidoo bedient auch Dion ein nach dem 11. September noch stärker gewordenes Heilsbedürfnis. Weichspüler-Pop, bei dem es immer nur um die ganze Welt geht – und wenn diese sich auch bloß um das eigene Baby dreht, das man im belgischen Steuerparadies austrägt. Die Leute wollen endlich ihre Ruhe haben, alles andere ist ihnen scheißegal. Ich sehe gestresste Hausfrauen abends nach dem Einkaufen die Wohnungstür zuschmeißen und es sich erst mal schön gemütlich machen.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist wichtig, dass es diese Musik gibt. Sie hält ganz normale Menschen davon ab, durchzudrehen, und ist somit ein Beitrag zum Weltfrieden. Aber es darf natürlich kein Zweifel daran bestehen, dass jemand, der einmal dieser Musik anheim gefallen ist, nie wieder sinnvoll in diese Gesellschaft zurückgeführt werden kann (s. auch: Rudolf Scharping).
Besserung ist nicht in Sicht. Auf Platz 6 kommt Enrique mit seinem Song „Escape“. Enrique heißt – was man, wenn man einmal seine Stimme gehört hat, leider sofort zu glauben bereit ist – mit Nachnamen Iglesias, ist laut Bravo 1,87 m groß und hatte eine traurige Kindheit. Die Eltern ließen sich früh scheiden und der berühmte Vater war der eigenen Karriere nicht unbedingt förderlich: „You are fucking crazy. Du weißt ja nicht, was du da tust!“, soll Julio seinem Sohn vorgehalten haben, weiß die Bravo.
Trotzdem ist der schwer erfolgreiche 27-Jährige immer noch nicht drogenabhängig. In seinem Song „Escape“ geht es um eine – Überraschung – große Liebe (wie übrigens 9 der in den Top 10 versammelten Songs dieses Thema behandeln), der man nicht entkommen kann. Das Ganze kommt mit dünner Stimme und harmlos vor sich hin tuckerndem Disco-Beat daher und ist wohl doch eine Nummer zu groß für den traurigen Spanier. Man fragt sich unweigerlich, wie viele jugendliche, nicht notwendigerweise weibliche Enrique-Hörer seinetwegen gerade keinen Sex haben. Und das ist doch immerhin etwas.
Nach derartigen Hörerfahrungen begrüßt man Marilyn Manson auf Platz 5 mit seiner Cover-Version des alten Soft-Cell-Klassikers „Tainted Love“ so überschwänglich wie einen alten Bekannten in der Fremde. Im Februar 1999 wurde Sasha im Blind-Date des WOM-Journal mit dem Werk des androgynen Hardrockers konfrontiert und erkannte ihn sofort: „Marilyn Manson, alles klar. Habe ich schon mal im Radio gehört, der David Bowie der 90er. Blümchen erzählte mir, dass sein Konzert richtig pervers abgegangen sei. So mit Sachen in allen Körperöffnungen verstecken … Das finde ich ziemlich hart, aber Blümchen fand das toll. Manson hat Mut, und das finde ich gut.“ Dem ist nicht wirklich etwas hinzuzufügen.
Einmal tief durchgeatmet und zurück in die Charts. Auf Platz 4 ist Ben mit seinem Hit „Engel“, der schon 13 Wochen dabei ist. Trotzdem habe ich von Ben vorher noch nie gehört, und was ich auf seiner Homepage „Pro-Ben“ lese, klingt anstrengend. Ben hetzt von einem Promo-Termin zum nächsten (Donnerstag Autogrammstunde bei Karstadt), joggt in seiner Freizeit, schreibt seine Texte selber und muss schon mal mitten im Interview nach draußen, um kurz einen musikalischen Einfall auf sein Handy zu singen. Mit der Liebe möchte Ben noch warten, bis er mehr Zeit hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendjemand um diesen Job reißt, aber wahrscheinlich muss es jemanden geben, der ihn macht.
Im Song „Engel“ geht es aus der Engel-Perspektive darum, dass auch Engel wie wir alle sind und jemanden brauchen, zum Lieben und Dankbar-Sein. Das Ganze bewegt sich musikalisch auf Augenhöhe mit dem Gesamtwerk von Olli P. Vollkommen in Ordnung, solange das niemand über dreizehn hört.
Es war ein langer Weg bis Platz 3 und ich muss zugeben, dass es mir jetzt schwer fällt, die heißblütige Verve zu würdigen, mit der die Kolumbianerin Shakira ihren einstigen Nummer-eins-Hit „Whenever Wherever“ vorträgt. Es handelt sich um gut gemachten Ethno-Pop, den man eindeutig schon zu oft im Radio gehört hat. Über 700.000-mal hat sich die Single in Deutschland verkauft, und auf amazon.de freut das die Fans. Überhaupt ist es ein interessantes Phänomen, dass es für Hörer von Chart-Singles offenbar wichtig ist, dass sich der Song, mit dem man sich identifiziert, möglichst lange möglichst hoch platziert halten möge. Ganz im Gegensatz zu dem, was sich im Pop als In-Crowd versteht, wo es dann gerade darum geht, dass das, was man hört, bitte um Himmels Willen nicht zum Massengeschmack wird … – „Lucky that my breasts are small and humble / So you don’t confuse them with mountains“, singt Shakira, und vielleicht ist das Beste an ihr, dass Britney Spears gerade nicht in den Charts ist.
Sollte sich die Stimmung kurz aufgeheitert haben, so stürzt sie jetzt allerdings endgültig in den Keller. Auf Platz 2, von 3 gestiegen und seit vier Wochen dabei, kommt das holländische Dance-Projekt Mad’house, deren Coverversion von Madonnas „Like a prayer“ beinahe zum Abbruch des Gesamtvorhabens führt, denn: Ich lege die Mad’house- Single ein. Ich höre einen simplen Disco-Beat und eine Stimme, die wie Madonna klingt. Ich lasse den Song eine Minute laufen. Dann drücke ich die Stopptaste. Dann höre ich eine Stunde lang depressiven Pop von Wilco. Dann höre ich eine Stunde lang depressiven Pop von Lambchop. Dann höre ich eine Stunde lang depressiven Pop von den Pet Shop Boys – wenn es denn schon Synthie-Pop sein muss. Dann mache ich einen zweiten Versuch mit Mad’house. Es ist Freitagnacht, halb drei, und mir fällt nur ein Ort ein, an dem ich jetzt noch weniger gern wäre als vor meinem CD-Player: in dem Club, in dem gerade Mad’house gespielt wird.
Mit letzter Kraft lege ich die Nummer eins in den CD-Player, Neueinstieg! Eine Mickymaus-Stimme aus dem Computer singt ein Stück aus Peter Maffays Tabaluga-Märchen, „Nessaja“. „Always lived my life alone …“, dann: „3 A. M.! The pageant call! Yaaaargh!!“. Wahnsinn! Nach neun Top-Ten-Singles bin ich endlich bereit für H. P. Baxxters enigmatische Botschaften („It’s not a bird, it’s not a plane“).
Ich reiße die Anlage voll auf und genieße das Affirmative der Musik. Es ist wichtig, festzuhalten, dass Pop einen natürlich auch stumpfhohl macht. Und dass das gut so ist. Man hält das Leben besser aus. Für fünf Minuten. Dann ist der Spuk endgültig vorüber, und ich schaue auf das Innenfoto der CD-Single, wo Scooter mit zwei halb nackten Blondinen Champagner trinkend in einem Rolls sitzen und aussehen wie ganz normale BWL-Abbrecher, die irgendwann die familieneigene Metzgerei in, sagen wir Detmold, übernehmen, um mit ihrem nächsten Mallorca-Urlaub den Laden in den Ruin zu treiben. Typen also, mit denen man kein Problem hätte. Wenn die Musik nicht wäre.
Am Ende, nachdem man sich diese Top Ten durchgehört hat, bekommt man es dann doch ein wenig mit der Angst zu tun. Vor Celine Dion. Vor Mad’house. (Vor Ben wohl nicht.) Vor sich selbst, wenn man Scooter hört. Vor „Pop!“ und vor hunderttausenden von Deutschen, die diese Null-auf-eins-Dynamik erst ermöglichen. Ich frage mich, ob noch irgendjemand außer mir alle diese zehn Singles hat. Hoffentlich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen