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dieter baumann über Laufen Der Blick von Michael Johnson

Das Abenteuer Laufen: Kleine Erinnerung an eine fast normale Sportstunde in einem Tübinger Gymnasium

„Mann, der sprintet ja echt.“ Dieser Aufschrei war eine Mischung aus Furcht und Bewunderung zugleich. Gleich würde es ernst werden für ihn, den Schüler des Gymnasiums in Tübingen. „Quatsch, der läuft doch nicht voll“, widersprach ihm ein Klassenkamerad, nur wenige Sekunden bevor sie sich in Bewegung setzten, um mir zu folgen. „Aber wir sprinten doch jetzt“, konnte der Dritte noch kurzatmig anmerken. Dann waren sie mitten drin im Wettkampf.

Für mich war es ein normales Trainingsprogramm: 5 x 2.000 Meter mit kurzen Pausen. Für die Schüler war es: ein ganz normaler Sportunterricht, und doch irgendwie anders. In einer Endlosstaffel sollten sie versuchen, sich mit mir zu messen. Klassenweise liefen sie in meinem Tempo mit, um nach 200 Metern von ihren Kollegen abgelöst zu werden. Die 5. Klasse machte den Start, dann die 6., die 7. Nur eine ganze Runde (68 Sekunden) verblieb ihnen, um zu verschnaufen. Sie mussten wieder zu Kräften kommen, denn schnell war ich nach 400 Metern wieder da. Im Schlepp hatte ich die nächste Klasse.

Acht, neun, zehn Schüler sprinteten los, noch ehe ich die 200 Meter Marke, ihren Start, erreicht hatte. Es glich einem Indianerüberfall. Wie eine wilde Horde stürzten sie sich geradezu in ihr Laufabenteuer. Schnell war ich umzingelt, fand mich mitten in einer tobenden, mit Händen rudernden und wild schnaufenden Kindermeute. Alle zweihundert Meter stieß ich immer wieder auf die gleiche Situation. Auf ihn mit Gebrüll. So ging es mit der ganzen Meute in die Kurve, alle dicht beieinander. Während einige, die den Start verschlafen hatten oder langsam müde wurden, zurückfielen, sich schließlich schon 30 Meter vor der rettenden Ziellinie auf den Rasen fallen ließen, verschärften die Übermütigen das Tempo. Die Arme eng am Körper vorbeiziehend, die Handflächen offen und mit lauten Zischlauten zogen sie an mir vorbei. So lieferte ich mir mit der Spitzengruppe ein wildes Sprintfinish, bei dem ich gar nicht gut aussah, weil ich noch Kraft brauchte, um weiterzulaufen – mit den anderen, den Kollegen, die schon wieder tänzelnd auf der lang gebogenen Startlinie auf mich warteten. Ein kurzweiliges Programm, bei dem es sich die Schüler der Oberstufen dann doch nicht nehmen ließen, mich auf der allerletzten Runde herauszufordern. Die ersten 100 Meter legten sie los, als gälte es, einen Michael Johnson herauszufordern. Der Vorsprung auf mich sollte offensichtlich möglichst groß sein. Und wirklich: Der Weltrekordler über 400 Meter aus Texas wäre sprachlos gewesen. Fast mühelos gewannen die Schüler an Boden. Ihre Beine trommelten durch die Kurve, dass die Bahn „bebte“. Hatten sie etwa auch so eine große Goldkette um den Hals, fragte ich mich mit bangem Blick auf die große Lücke. Dann aber wurde ihr Schritt kürzer, die Beine schwer. Schon vor der zweiten Kurve wurde der Abstand kleiner. Ich konnte wieder aufschließen. Sie zögerten und stellten offensichtlich verblüfft fest, wie lang der Weg über eine Stadionrunde werden kann. „Es hat sich ausgejohnsont“, dachte ich. Mitnichten. Aufreizend lässig ließen sie ihren 400-Meter-Lauf, ganz nach dem amerikanischen Vorbild, schon nach 300 Metern „austrudeln“ – während ihre Blicke einmal links, dann rechts über ihre Schulter schweiften, um mein Herankommen zu kontrollieren.

Auch Johnson hatte in seinem unverkennbaren Laufstil – den Oberkörper gerade wie ein Besenstiel – die Angewohnheit, die letzten 100 Meter lässig seine Gegner kontrollierend ins Ziel zu laufen. Nur ein einziges Mal hatte er, soweit ich mich erinnern kann, auf dieses Spektakel verzichtet und … lief Weltrekord.

Es fehlte wirklich an nichts, an diesem Nachmittag im Sportunterricht. Nun gut, einen Weltrekord erzielten wir nicht … Aber dieser schon fast perfekte Blick, einmal links über die Schulter, dann rechts.

Es fehlte ganz sicher nicht an der Laufleistung, vielleicht noch ein wenig an der Laufeinteilung. (Aber das kam mir bekannt vor. „Wie beim Hamburg Marathon“, dachte ich.)

„Waren Sie überhaupt gefordert?“ In der anschließenden Diskussionsrunde war das die Antwort, die mit größter Spannung erwartet wurde: „Klar strengt das an. Immerhin rannten wir die letzten beiden 2.000-Meter-Abschnitte im Renntempo eines 10.000-Meter-Laufes“, versuchte ich klar zu machen.

„Mann, wir sind doch voll gesprintet.“ – „Klar, wie Michael Johnson.“

Fragen zu Laufen?kolumne@taz.de

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