Die Blockierer

Die Bündnisgrünen haben in der Koalition viel erreicht – vom Naturschutz bis zur Homoehe. Aber sie haben noch mehr verraten – und verhindern politische Debatten

Fischer & Co. machen Anpassung zum Programm – das ist intellektuelle Feigheit

Die Zukunft der Regierungskoalition ist ungewiss, aber die Grünen haben allen Umfragen zufolge derzeit wenig Anlass zur Sorge. Das ist bedauerlich. Wem daran gelegen ist, dass bestimmte Themen endlich aus der politischen Schmuddelecke herauskommen und auch von der etablierten Politik zur Kenntnis genommen werden, der kann dieser Partei gegenwärtig keinen Erfolg wünschen.

Mehr als jede andere politische Gruppierung sind es nämlich die Grünen, die einer solchen Entwicklung im Weg stehen. Nicht nur deshalb, weil sie selbst bestimmte Forderungen nicht mehr erheben – sondern vor allem deshalb, weil sie es anderen Parteien erleichtern, sich mit entsprechenden Fragen gar nicht erst auseinander zu setzen. Die Führungsspitze der Grünen begegnet grundsätzlicher Kritik regelmäßig mit dem Hinweis, eine kleine Partei dürfe nicht erwarten, ihr gesamtes Wahlprogramm umsetzen zu können. Teile der eigenen Anhängerschaft zeigten mit ihren Vorwürfen nur, dass sie sich den schmerzhaften Konsequenzen des Rollenwechsels von der Opposition zur Regierungsverantwortung verweigerten. Dieses Argument liegt neben der Sache.

Wenn die Bedeutung einer Partei ausschließlich daran zu messen wäre, welche gesetzlichen Neuregelungen sie durchzusetzen imstande ist, dann hätten die Grünen tatsächlich Grund zur Genugtuung. Entgegen einem weit verbreiteten Eindruck ist es ihnen gelungen, innerhalb der Regierungskoalition deutliche Akzente zu setzen – erheblich mehr als seinerzeit die FDP im Bündnis mit der Union. Der Ausstieg aus der Atomenergie (wie umstritten seine Modalitäten auch sein mögen), das Gesetz über erneuerbare Energien, die Besserstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, die Erweiterung der Rechte von behinderten Menschen, das neue Naturschutzgesetz und auch die – wenngleich unzureichende – Reform des Staatsbürgerschaftsrechts: Diese Liste von Maßnahmen, die es ohne die Grünen nicht gegeben hätte, ist nicht einmal vollständig.

Aber die Wirkung einer Partei besteht eben nicht allein in der Zahl und nicht einmal ausschließlich in der Bedeutung der von ihr durchgesetzten Reformen. Wäre es anders, dann könnte sich jede Opposition am Tag nach den Wahlen bis zum nächsten Urnengang aus dem Parlament verabschieden. Parteien haben auch die Aufgabe, geistige Strömungen zu bündeln und ihnen eine Stimme zu verleihen.

Die Bevölkerung erkennt diese Aufgabe an. Umfragen ergeben, dass ein breites Parteienspektrum im Parlament für wünschenswert erachtet wird. Die Öffentlichkeit weist die Kompetenz für bestimmte Politikbereiche unterschiedlichen Parteien zu, und zwar unabhängig von der jeweiligen Präferenz der Befragten. So gilt beispielsweise die CDU als zuständig für wirtschaftlichen Erfolg, die SPD für soziale Gerechtigkeit. Und die Grünen? Ökologie, Demokratisierung, Friedenspolitik und Wahrung der Menschenrechte sind Angelegenheiten, bei denen dieser Partei ein Wächteramt zugebilligt wird.

Diesem hohen Anspruch werden die Grünen längst nicht mehr gerecht. Aus Angst vor einem Koalitionsbruch und oft sogar lediglich aus der Sorge heraus, manche Forderungen könnten von der Öffentlichkeit zunächst als bizarr empfunden werden, verzichteten sie in den letzten Jahren darauf, Themen auch nur auf die Tagesordnung zu setzen, bei denen ein kurzfristiger Erfolg nicht in Sicht war. Sie haben die Anpassung zum Programm erklärt. Das überschreitet die Grenze zur intellektuellen Feigheit.

Wer behauptet, dieser Kurs sei notwendig gewesen, um bestimmte Dinge durchsetzen zu können, lässt den hohen Preis außer Acht, der für Opportunismus zu entrichten ist. Die Akzeptanz der inoffiziellen Arbeitsteilung zwischen den Parteien ist nämlich eine zweischneidige Angelegenheit. Neben der demokratischen Grundhaltung, die darin zum Ausdruck kommt, enthält sie auch ein gefährlich beschwichtigendes Element.

Solange eine bestimmte Partei auf ihrem eigenen Feld keinen vehementen Einspruch gegen die gesellschaftliche Realität oder gegen die Folgen politischen Handelns erhebt, so lange kann die Situation so dramatisch nicht sein: Das ist der Umkehrschluss, der sich aus der Kompetenzzuweisung bestimmter Themen an bestimmte Parteien ergibt. Wenn die Grünen also die Flughafenregelung zur Abschiebung unerwünschter Ausländer stillschweigend akzeptieren, wenn sie Krieg für eine mögliche Fortsetzung der Diplomatie halten, wenn sie viele Anliegen der Globalisierungskritiker für naiv erklären, die deutschen Rüstungsexporte hingegen für hinnehmbar – dann werden sie schon Recht haben. Davon verstehen sie schließlich etwas.

Solange die Grünen zu Problemen schweigen, mit denen sie identifiziert werden, solange finden diese Probleme in der veröffentlichten Meinung kaum Beachtung. Warum auch? Die Medien haben sich in den letzten Jahrzehnten daran gewöhnt, dass jedes relevante Thema seine parlamentarischen Fürsprecher findet. Das muss nicht falsch sein. Als die SPD seinerzeit auf allzu viele Fragen die Antwort verweigerte, verlor sie irgendwann die komfortable Rolle des „kleineren Übels“, das immer wieder gewählt werden musste, um Schlimmeres zu verhüten. Damals wurden die Grünen gegründet.

Gegenwärtig wird wieder viel geschwiegen innerhalb der politischen Klasse der Bundesrepublik. Über die Legitimität der Kriegsführung ohne völkerrechtliche Grundlage, über die Notwendigkeit der Demokratisierung europäischer Institutionen, über mögliche Gegenmaßnahmen zur Hegemonialpolitik der USA, über Begrenzungen der wirtschaftlichen Liberalisierung. Um nur einige Beispiele zu nennen.

Würde sich das ändern, wären die Grünen einfach nicht mehr an der Regierung, sondern in der Opposition? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn wenn die führenden Vertreter dieser Partei nach einem Machtwechsel umstandslos wieder in die Rolle der kritischen Mahner zu schlüpfen versuchen, dann dürfte das ein ziemlich merkwürdiges Schauspiel werden.

Die Grünen gelten bei vielen schon seit längerem als kleineres Übel – wie lange noch?

Ist Edmund Stoiber gefährlich genug, um hinnehmen zu müssen, dass wichtige Fragen nicht einmal mehr gestellt werden dürfen? Kaum. Es ist schwer vorstellbar, dass er Schlimmeres zu verantworten hätte als einen Angriffskrieg. Und falls es den Grünen nicht gelingt, sich in der Opposition zu erneuern, dann werden sie Nachfolger finden. Ihre ursprünglichen Anliegen sind jedenfalls wichtig genug, um bessere Repräsentanten zu verdienen. Möglicherweise kommen die sogar aus dem derzeit kaum wahrnehmbaren Spektrum linker Sozialdemokraten.

Die sinkende Wahlbeteiligung ist immerhin nur einer von mehreren Hinweisen darauf, dass einem substanziellen Teil der Bevölkerung die Antworten nicht mehr genügen, die von der institutionalisierten Politik derzeit angeboten werden.

BETTINA GAUS