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Letzter Aufenthalt: Cliostraat 6

Vor 62 Jahren marschierten deutsche Truppen in die Niederlande ein und deportierten in den folgenden Jahren mehr als hunderttausend Juden. Unter ihnen: der deutsch-jüdische Denkpsychologe Otto Selz

von HERBERT BECKMANN

Am 1. Februar 1942, die Niederlande sind seit knapp zwei Jahren von deutschen Truppen besetzt, hält Otto Selz einen Vortrag am jüdischen „Cultuurwerk“ in Amsterdam. Selz ist Psychologe, Deutscher, Jude. Sein Thema heute, am ersten Tag einer Vortragsreihe, heißt „Die geistige Entwicklung und ihre erzieherische Beeinflussung“. Selz spricht deutsch, seine Hörerschaft besteht aus niederländischen PädagogInnen, die an einer jüdischen Schule in Amsterdam unterrichten oder gezwungen wurden, ihre Stellung an niederländischen Schulen aufzugeben.

Bis vor zehn Jahren war Selz Hochschullehrer in Mannheim. Während in Deutschland die Psychologie zur kriegsdienlichen Auslesetätigkeit verludert und Selz die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wird, ist der exilierte Psychologe noch immer überzeugt, „wie fruchtbar die Arbeit des psychologisch geschulten praktischen Pädagogen werden kann“.

Otto Selz war einer von sechs jüdischen Psychologieprofessoren in Deutschland, die schon im ersten Jahr der NS-Herrschaft ihre Stellen verloren. In Deutschland sind seine Arbeiten heute weitgehend vergessen, auch wenn das Psychologische Institut in Mannheim nach ihm benannt wurde. Niederländischen und amerikanischen WissenschaftlerInnen gilt er dagegen als ein Pionier in der Erforschung des Denkens und Lernens. Wer sich heute fragt, woran das deutsche Unterrichtssystem krankt, erhält die Antwort bei Otto Selz, dem vergessenen Forscher, der dem Denken gleichsam „Hand und Fuß“ gab.

Während man sich in der Zeit vor ihm noch vorwiegend mit den bildlichen Vorstellungen und den Inhalten des Denkens beschäftigte, interessiert sich Selz dafür, wie es funktioniert, er will den Verlauf des Denkens verstehen. Der damals herrschenden Assoziationspsychologie hält er entgegen, dass das Denken nicht ungerichtet, durch zufällige Assoziationen von Inhalten verknüpft ist, sondern zielgerichtet verläuft. Der Mensch, so Selz, entwickelt eine zunächst diffuse Vorstellung von der Lösung eines Problems, ein „Schema“. Dann setzt er bestimmte (bewährte) Lösungsmethoden ein, um zum Ziel zu gelangen. Diese „Operationen“ müssen keineswegs bewusst sein; Selz zeigt, dass die eingesetzten Lösungsmethoden auch ohne bewusste Aufmerksamkeit zum Einsatz kommen. Für ihn gibt es im Grunde keine Fehlleistungen. Auf dem Weg zur Lösung finden sich fast immer gelingende Teiloperationen, „Teilwirksamkeiten“.

Die Eigenaktivität der Kinder, der kindliche Spaß am Tüfteln und Rätseln, ihre „Betätigungs- und Funktionslust“, erkannte Selz, müsse gefördert werden. Lernen bedeutet für ihn deshalb, „das Lernen zu lernen“. Entsprechend initiiert er in den Zwanzigerjahren Untersuchungen zur „Hebung des Intelligenzniveaus von Schülern“ an den Schulen Mannheims und Umgebung.

Selz hatte nicht die Zeit, seine Forschungen in Deutschland bekannter zu machen und seine Ideen bis in die Pädagogik und in die weitere Gesellschaft hineinzutragen. Mit Erlass Nr. A 7642 des badischen Ministers des Kultus und Unterrichts zur „Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung“ wird Selz am 4. April 1933 vom Dienst suspendiert und ein Jahr später in den so genannten Ruhestand gezwungen. Selz besitzt zwar einen gültigen Reisepass, zwischen 1933 und 1938 besucht er auch mehrfach die Schweiz, er erhält sogar einen Ruf nach China. Doch offenbar mit Rücksicht auf seine Mutter und seine Schwester, die er materiell unterstützt, wandert er zunächst nicht aus. Im Zuge der Novemberpogrome 1938 wird Selz nach Dachau deportiert.

Mitte Dezember 1938 wird er aus dem KZ entlassen, wahrscheinlich mit der Auflage zu emigrieren. Jedenfalls beantragt Selz nun umgehend die Ausreise in die Niederlande, wo er bereits seit den Zwanzigerjahren wissenschaftliche Kontakte und Freunde hat. Mitte Mai 1939 trifft er in Bilthoven ein, kurze Zeit später geht er nach Amsterdam, wo er in der „Pension Huize Clio“, Cliostraat 6, ein Zimmer bekommt.

Die Haltung der niederländischen Regierung war keineswegs freundlich gegenüber deutschen Emigranten. Die Flüchtlinge, argumentierte sie, stellten eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung dar in einer Zeit, da es schwierig sei, selbst für die eigenen Landsleute Existenzmöglichkeiten zu schaffen. Die Furcht vor dem bedrohlichen östlichen Nachbarn wuchs noch mit der Zunahme der niederländischen „Nationaal Socialistische Beweging“ (NSB), die bei den Provinzialwahlen 1935 fast acht Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten hatte. Infolgedessen wurden den Asylsuchenden schon bald nur noch kurzfristige Aufenthaltsgenehmigungen erteilt. Solidarität und Hilfe blieb Gemeinschaften und religiösen Gemeinden überlassen. Schon im März 1933 war ein jüdisches Flüchtlingskomitee („Komité voor bijzondere joodse belangen“) gegründet worden, dem ein akademischer Unterstützungsfonds angeschlossen war.

Unmittelbar nach Selz’ Ankunft in den Niederlanden – Julius Streicher fordert soeben im Stürmer die Liquidierung der Juden in der Sowjetunion – im Mai 1939 erkrankt Otto Selz schwer an Darmblutungen und muss mehrere Wochen im Krankenhaus behandelt werden – bedrohliche Folgen von Verhaftung und Vertreibung.

Selz verfügt über keine Mittel mehr. Er lebt von monatlich sechzig Gulden zunächst vom „Academisch Steunfonds“, später vom „Joodsche Raad voor Amsterdam“. Durch Lehrveranstaltungen für das „Cursuswerk“, einer für Erziehungs- und Ausbildungsbelange zuständigen Abteilung des Judenrats, kann er sein Einkommen geringfügig aufbessern.

Am 10. Mai 1940 marschiert die deutsche Armee in die Niederlande ein. Innerhalb weniger Tage ist das ganze Land unter deutscher Kontrolle. Am 12. Februar 1941 fordern die deutschen Besatzungsbehörden prominente Juden auf, einen „Jüdischen Rat“ zu bilden. Im Sommer 1941 werden die Personalausweise der Juden mit „J“ gebrandmarkt, wie zuvor schon die Einwohnermeldekarten. Seit Februar 1941 tritt die WA, die Wehrabteilung der niederländischen Nationalsozialisten, immer häufiger mit zunehmender Brutalität im Amsterdamer Judenviertel auf. Knapp fünfzig Kilometer von der deutschen Grenze entfernt liegt das 1939 errichtete „Durchgangslager“ Westerbork. Es war zunächst im Auftrag des niederländischen Innenministers als Auffanglager für Flüchtlinge aus Deutschland errichtet worden. Nach der Übernahme durch die deutsche Polizei Anfang Juli 1942 beginnen die Transporte in die Vernichtunglager im Osten.

Im Juni 1940 wendet Selz sich mit „einer besonders dringlichen Bitte“ brieflich an den Gestaltpsychologen Kurt Koffka, seit 1927 Professor in Northampton, Massachusetts. Koffka verweist ihn an den in die USA emigrierten jüdischen Kollegen Max Wertheimer, der an der berühmten New School of Social Research in New York Mitglied einer Kommission ist, die sich für vom NS-Staat verfolgte PsychologInnen einsetzt. Mehrere kleine Stipendien sind zu vergeben, verbunden mit der Aussicht auf Festanstellung nach Ablauf des Stipendiums. Otto Selz, knapp sechzig, seit einem Jahrzehnt aus dem Beruf, dann aus Deutschland vertrieben, jetzt im Amsterdamer Exil, ist unter den Fachkollegen in den USA nahezu unbekannt und, wie Wertheimer mitgeteilt wird, „jenseits des Alterslimits“ für ein Stipendium und das rettende Visum. Man hoffte aber, ihm später mit einer Gruppe weiterer PsychologInnen eine Chance auf Einreise zu verschaffen.

Doch dafür war es am Ende zu spät. Im Februar 1943 verkündet Goebbels im Sportpalast den „totalen Krieg“. Im Warschauer Getto beginnt im April der Aufstand der Bewohner, in dessen Verlauf knapp sechzigtausend Juden von Polizei, SS und Wehrmacht getötet werden. Im Juli 1943 verhaftet die „Grüne Polizei“ der Besatzungsmacht Otto Selz und deportiert ihn nach Westerbork. Am Dienstag, den 24. August 1943, bescheinigt der Deutsche Wetterdienst den Menschen der Reichshauptstadt Berlin einen warmen Sommertag mit einer Höchsttemperatur von 23 Grad Celsius, Luftdruck tausend Millibar; der Mittagshimmel ist freundlich und knapp zur Hälfte bewölkt. An jenem Dienstag fährt in Westerbork der Zug Nr. DA 703 mit 1.001 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, für die Beförderungsscheine besorgt worden waren, nach Auschwitz ab. Otto Selz ist einer von ihnen, er stirbt entweder noch während der Fahrt oder unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern von Auschwitz.

Knapp drei Jahrzehnte später zieht eine psychologische Dissertation einen Schlussstrich unter das Kapitel Otto Selz: „Selz lebte seinem Ziel. Was dieses Ziel nicht betraf, war zweitrangig. Auch die Gaskammern werden dies für ihn gewesen sein.“ Der Tod in Auschwitz, ein zweitrangiges persönliches Ereignis? Die Fähigkeit zu trauern war wohl auch bei Selz’ deutschen Berufskollegen nicht allzu ausgeprägt.

HERBERT BECKMANN, 41, ist Psychologe und lebt als freier Autor in Berlin

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