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Verlangsamt Europa!

Was tun gegen Rechtspopulisten? (1): Mehr Sozialstaat allein reicht nicht. Wirbrauchen auch eine behutsame EU-Integration und mehr europäische Symbole

Bündnisse gegen rechts können auch schaden. Denn sie bekräftigen ungewollt das rechte Selbstbild

Die Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch in Europa. Das zeigen ihre Wahlerfolge in Italien, Norwegen, Dänemark, Österreich, der Schweiz und Frankreich. Le Pen erhielt fast 18 Prozent der Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen. Kommt jetzt zu allem Überfluss auch noch ein rechter Märtyrer in den Niederlanden dazu? Was macht die Rechten stark?

Vernünftige, aufgeklärte Linksintellektuelle neigen zu materialistischen Antworten. Politische Entscheidungen verstehen sie in erster Linie als Ausdruck von rationalen Interessen. Folglich wird Rechtspopulismus als Protest gegen Arbeitslosigkeit, sozialen Abstieg und politische Marginalisierung gedeutet. Ein Blick auf die soziale Schichtung der Wähler von rechtspopulistischen Parteien bestätigt diese These. Tatsächlich sind es die wenig gebildeten und die sozial schwachen Milieus, die Rechts wählen.

Die politische Konsequenz aus dieser Interpretation ist die Ausweitung des Sozialstaats. Mit mehr sozialer Sicherheit und mehr Arbeitsplätzen soll den rechten Protestwählern der Grund für ihren Protest genommen werden. Diese Strategie ist richtig, leider ist es damit aber nicht getan. Sozialer Abstieg und Arbeitslosigkeit sind nur Teilaspekte des Problems. Warum hat die norwegische „Fremskrittspartiet“ (Fortschrittspartei) denn sonst so starken Zulauf? Norwegen ist reich, verfügt über ein ausgebautes, egalitäres Sozialsystem und die Arbeitslosenquote liegt quasi bei null.

Selbst wenn es wirklich primär um die Artikulation von sozialen und ökonomischen Interessen ginge würde zumindest irritieren, dass die abstiegsgefährdeten Schichten nicht Links wählen. Schließlich ist es eigentlich doch immer noch die Linke, die für sozialen Ausgleich steht. Wieso begeistert also nicht sie, sondern der neoliberale Millionär Christoph Blocher die abstieggefährdete Arbeiterschicht Zürichs?

Klar ist, dass nicht allein die ökonomischen Abstiegsängste den Rechten die Wahlerfolge bescheren. Was die Rechtspopulisten anbieten, ist Orientierung in einer Zeit, in der alte Orientierungen und Sicherheiten an Bedeutung verlieren. Feste Milieus lösen sich auf, der Dschungel des Medienangebots wird immer unüberschaubarer, die Globalisierung und Europäisierung hat rasant an Fahrt zugenommen, die Pluralisierung und höhere Mobilität in der Gesellschaft führt dazu, dass viele nicht mehr wissen, wo sie stehen. Hier bieten die Rechtspopulisten eine klare Standortbestimmung. Dreh- und Angelpunkt ist die alte Geschichte von der eigenen Nation, die Fragen zu beantworten scheint: Wer ist gut? Wer böse? Was ist richtig? Was falsch? Wo kommen wir her? Und: Wo gehen wir hin?

Nationen hatten schon immer diesen religiösen Charakter, sie haben für Sinnstiftung und Orientierung gesorgt. Aus diesem Grund vergleicht die Nationalismusforschung sie mit religiösen Weltanschauungen. Die Verteidigung der nationalen Gemeinschaft gegen Europa, Ausländer und korrupten Bürokraten ist fester Bestandteil im rechtspopulistischem Repertoire. Nicht zufällig kündigte Le Pen für den Fall seines Sieges den Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union an.

Häufig wird argumentiert, dass eine forcierte europäische Integration zur Überwindung des Nationalismus notwendig sei. Das Gegensatzpaar „Entweder mehr Europa oder rückständiger Nationalismus“ wird aufgebaut. Dies beruht auf einem Denkfehler. Die schnelle Entgrenzung der Gesellschaften in Europa löst traditionelle Bezugspunkte und abgegrenzte Räume auf. Viel Bewegung schafft viele Unsicherheiten. Als Gegenbewegung findet eine Rückbesinnung auf die Nation und auf die alten Werte der Familie statt.

Hastige Integration überfordert viele Menschen und ist damit eine unerschöpfliche Quelle für nationalistische und rechtspopulistische Parteien. Wenn die europäische Integration ein Erfolg werden soll, dann muss diesem Bedürfnis nach Orientierung mit symbolischer Politik entsprochen werden. Erst wenn eine europäische Identität zumindest ansatzweise die Orientierungsfunktion der nationalen Gemeinschaft übernimmt, sind weitere Integrationsschritte möglich, ohne dass rechte Bewegungen dies sofort ausnutzen.

Währenddessen handelten das niederländische Parlament und die Regierung nach dem Attentat instinktiv richtig, als sie den Wahltermin beibehielten und gemeinsam um Pim Fortuyn trauerten. Denn viel verheerender als die aktuelle Woge der Sympathie für die Rechten und ein etwas besseres Wahlergebnis für sie, wäre der leiseste Verdacht, dass die etablierten Parteien den Mord ausnutzen. Mit der Beschwörung der gemeinsamen, friedlichen und demokratischen Werte wird das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Orientierung, dass die rechten Wähler so anzieht, befriedigt.

Möglich ist, dass die Welle rechtspopulistischer Erfolge in Europa abebbt. Wahrscheinlicher ist aber, dass rechtspopulistische Parteien in vielen europäischen Ländern dauerhaft zwischen 10 und 15 Prozent der Wähler für sich gewinnen können. Frankreich zeigt, dass breite gesellschaftliche Bündnisse die Rechtspopulisten von der politischen Macht fernhalten können. Zudem schafft die Mobilisierung gegen rechts Meinungsführerschaft.

Wieso begeistert der neoliberale Millionär Christoph Blocher die abstieggefährdete Arbeiterschicht Zürichs?

Aber solche Bündnisse aller Demokraten bergen auch Risiken. Wenn gesellschaftliche Diskurse sich nur noch um die Abwehr der Rechten drehen, wenn bürgerliche und linke Parteien als Einheitsfront gegen rechts wahrgenommen werden, dann kommen Rechtspopulisten in die komfortable Situation, sich als einzig wahre Opposition präsentieren zu können. Diese Position entspricht der Rolle des kleinen Mannes, in der sich die Rechten gerne selbst sehen. Der kleine Mann (von kleinen Frauen ist nie die Rede) opponiert gegen die da oben. Den korrupten Politikern, Büro- und Eurokraten ist er moralisch überlegen. Dank seines unverfälschten gesunden Menschenverstands ist er schlauer als die hohen Tieren und die verkopften, weltfremden Intellektuellen.

Die Geschichte vom guten, kleinen Mann natürlich ist naiv. Sie erklärt aber, warum der Rechtspopulismus gerade in traditionsreichen Demokratien wie Dänemark, Norwegen, der Schweiz, Frankreich oder den Niederlanden Fuß fasst. Denn Rechtspopulisten beziehen ihre Legitimität, indem sie auf den vernünftigen Bürger rekurrieren. Die Parole heißt: Wir sind das Volk!

Um den Vormarsch der Rechten zu stoppen, braucht es vor allem Vernunft. Deshalb: mehr sozialer Ausgleich, mehr Bildungsausgaben und mehr Initiative gegen Arbeitslosigkeit. Aber das reicht nicht. Die europäische Integration sollte langsamer angegangen werden, denn sie schafft starke nationalistische Gegenbewegungen. Um den Rechten das Wasser abzugraben, muss es mehr Orientierungspunkte geben. Deshalb ist mehr symbolische Politik notwendig: Mehr Reden über gemeinsame europäische Werte, mehr Fahnen, Lieder und Wimpel. JOCHEN HILLE

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