: Vergessene Wahhabiten
Nach dem Bombenanschlag in Dagestan geraten die Aktivitäten islamistischer Extremisten an der Grenze zu Tschetschenien wieder ins Bewusstsein
MOSKAU taz ■ Fast stündlich steigt in der südrussischen Republik Dagestan auch noch einen Tag nach dem Bombenanschlag in Kaspijsk die Zahl der Toten. Gestern Nachmittag waren bereits 41 Opfer ihren Verletzungen erlegen. Laut der Agentur Interfax haben von den 150 in Krankenhäuser eingelieferten Opfern allein 90 schwere Verletzungen erlitten, viele schweben noch in Lebensgefahr.
Wie in Russland üblich, wurde zunächst eine tschetschenische Spur vermutet. Die Untersuchungen haben bis auf die Art des Sprengsatzes, einer Landmine des Typs MOL 50, indes noch keine Ergebnisse erbracht. Dagestan, auf Türkisch „Land der Berge“, zählt seit langem zu den Sorgengebieten der Russischen Föderation. Es ist nicht nur eine der ärmsten Regionen, sondern auch ein Hort der Gewalt. Der Anschlag von Kaspijsk ist bereits der neunte seit Jahresbeginn. Im Januar starben mehrere russische Wehrdienstleistende, deren Lkw durch eine Bombe nach dem Besuch eines Badehauses in die Luft gejagt worden war.
Einen Überlebensrekord hält der Bürgermeister der Hauptstadt Machatschkala, Said Amirow. Fünfzehn Mal, so die kaukasische Legende, sei ihm nach dem Leben getrachtet worden, und stets sei er entkommen. Das brachte Amirow den Titel des „besten Bürgermeisters der Russischen Föderation“ ein. Die Gewalt in der knapp zwei Millionen Einwohner zählenden Republik an der Grenze zu Aserbaidschan hat indessen viele Ursachen.
Wichtige Gründe sind Armut und Arbeitslosigkeit, die in Gebirgsregionen 90 Prozent erreicht. Besonders hart betroffen ist das an die Republik Tschetschenien angrenzende Gebiet im Nordwesten. Seit Ende des ersten Tschetschenienkriegs 1996 werben dort islamistische Fundamentalisten, die Ausbildungslager jenseits der Grenze unterhalten, besonders erfolgreich meist jugendliche Anhänger. 1999 drangen in der Nähe von Bottlich tschetschenische Freischärler nach Dagestan ein und boten Moskau damit einen Vorwand, den zweiten Tschetschenienkrieg zu entfachen. Die Eindringlinge wurden von dem tschetschenischen Warlord Schamiil Bassajew und dem jordanischen Söldnerführer Chattab angeführt. Ihm wurden enge Kontakte zu Ussama Bin Laden nachgesagt. Chattab ist im März vermutlich durch einen von den eigenen Gefolgsleuten vergifteten Brief ermordet worden. Russische Beobachter vermuten, die Anhänger Chattabs könnten durch das Blutbad von Kaspijsk darauf aufmerksam machen wollen, dass sie auch nach dem Tod ihres Anführers den Kampf nicht aufgeben werden.
Moskau hat dem Treiben der islamistischen Wahhabiten jahrelang untätig zugeschaut. Warnungen aus Machatschkala, das im Kreml und in russischen Medien fast nur im Zusammenhang mit Anschlägen wahrgenommen wird, hat Moskau lange Zeit in den Wind geschlagen – aus Desinteresse und Fahrlässigkeit.
Für Spannungen sorgen in dem Vielvölkergebilde auch die schwierigen Beziehungen der über 30 Ethnien. Größte Anstrengungen sind immer wieder vonnöten, um die labile Balance zwischen den kleinen Völkern zu erhalten. Der Tschetschenienkonflikt hat dieses ohnehin volatile Gleichgewicht nachhaltig destabilisiert. KLAUS-HELGE DONATH
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