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Auf dem grünen Teppich des Propheten

„Es gibt bei uns keinen Antisemitismus“, betont Vater Ahmed. „Das ist Propaganda.“

von PHILIPP GESSLER

Al-Dschasira läuft, und alles ist wie bestellt. Der Nahostkonflikt, zumindest dessen unblutiger Teil, findet auch hier in Berlin-Buckow statt – im engen Wohnzimmer eines grauen Plattenbaus, der das Vorurteil widerlegt, die „Platte“ habe es nur im Osten gegeben. Der Moderator im Fernsehen spricht arabisch, die Flimmerkiste läuft hier ununterbrochen. Und fast wünschte man sich, jemand würde nur einen blöden Hometrainer anpreisen statt das Sterben für die heilige Sache Palästinas.

Besuch in der kleinen Wohnung der Alis, dem Zuhause einer palästinensischen Familie am grünen Rand der Hauptstadt. Wir wollen wissen, was man als Palästinenser in Deutschland denkt und fühlt, wenn in der alten Heimat das Töten und Morden in einer weitere, sinnlose Runde geht. Der Teppich im Wohnzimmer ist grün wie die Fahne des Propheten. In der Ecke steht eine mächtige weiße Glasvitrine, in der eine Sportmedaille prahlt. An der Tür und neben dem Fernseher hängt die Ikone der zweiten Intifada in Palästina: Es ist eine mittlerweile berühmte Fotoserie, die zeigt, wie der 12-jährige palästinensische Junge Mohammed al-Durrah am 30. September 2000 im Kugelhagel an einer Kreuzung in Gaza-Stadt starb. Sein Vater Jamal, wie Mohammed hinter einer Tonne kauernd, versuchte vergeblich, seinen Sohn durch seinen eigenen Körper zu schützen. Der reine Horror. „Das wahre Gesicht Israels“ steht auf dem Plakat an der Tür.

Sind die Alis Fanatiker? Zunächst einmal ist Familie Ali eine typische Migrantenfamilie, eingedeutscht in Möblierung, Kleidung und Sprache, die zwischen leichtem Berliner Dialekt und südländischem Zungenschlag hin und her schwingt. Vater Ahmed (48) und seine Frau Jamila (42) sind seit Anfang der 70er-Jahre in Deutschland. Die Kinder Fayez (22), Aiman (19) und Nada (13) sind alle hier geboren. Aufmerksam und höflich sitzen sie um ihren Vater herum, rechte Schränke sind die Jungs: Ahmed ist Fräsen- und Drehmaschinen-Einsteller, worauf man kommen könnte, wenn man seine schweren Hände sieht: Seiner Rechten fehlt das Endglied des Mittelfingers. Fayez und Aiman machen Ausbildungen zum Elektroinstallateur und Bürokaufmann. Nada geht noch in die Schule, Jamila ist Hausfrau. Fast alles hier ist Buckow, kaum etwas Tarschiha.

Aus Tarschiha, 40 Kilometer östlich von Akko gelegen, stammt Ahmeds Vater. Von dort wurde er 1948 vertrieben. Jamilas Eltern kommen auch aus diesem 5.000-Seelen-Dorf im heutigen Nordisrael. Sie ist die Cousine ihres Mannes. Ahmed wurde in einem palästinenischen Flüchtlingslager im nordsyrischen Aleppo geboren, Jamila in der libanesischen Hauptstadt Beirut. In dem früheren Haus der Familie Ali wohnen heute Christen. Keiner ihrer Verwandten lebt noch in Tarschiha, nur noch ein paar Bekannte. Ahmed zeigt ein vergrößertes Foto des Dorfes – ihr Haus, sagt er mit einem Lachen, sei rechts um die Ecke. Sein Großvater habe dort große Güter gehabt.

Fast 30 Jahre war Ahmed nicht mehr in Tarschiha, dafür dreimal in Syrien. Seit 12 Jahren hat er die deutsche Staatsbürgerschaft. Im arabischen Nachrichtensender sieht man den dicken Premier Israels, Ariel Scharon, mühsam eine Gangway heruntertapsen.

„Ich fühle mich noch als Palästinenser“, sagt Ahmed, „der Boden allein reicht aus, dass wir Palästinenser sind. Man kann sich von seinem Volk nicht distanzieren.“ Nada schweigt die meiste Zeit, Jamila will gar nichts sagen. Sie lächelt viel, holt neuen Kaffee und schenkt ein. „Ich fühle mich dort hingezogen“, erklärt der älteste Sohn Fayez, obwohl er einräumt: „Ich bin nicht einmal in meiner Heimat gewesen – das stört mich schon ein wenig.“ Und Aiman betont: „Ich denke täglich an den Konflikt. Es sind schließlich unsere Landsleute.“

Die Alis können den libanesischen Sender Al-Manar empfangen, und wenn dessen Bilder in das Wohnzimmer flimmern, muss man kein Arabisch verstehen, um zu erkennen: Hier wird mit heroisch lärmender Musik und patriotisch-pathetischen Bildern vor allem Propaganda für die Intifada gemacht. „Die ganze Welt steht vor einem globalen Krieg“, sagt Ahmed düster. Humor und Lebensfreude scheinen ihm im Verlauf des Gespräches immer mehr abhanden zu kommen. Fayez deutet eine Verschwörung an. Er verweist darauf, dass die Quersumme des 11. 9. 2001 genau 23 sei, und diese Zahl sei ja bekannt. Außerdem sei die Quersumme davon wieder 5 – die Zahl der Macht: Auch das Pentagon habe fünf Ecken.

Es drängt Ahmed und seinen Ältesten, die Terroranschläge des 11. September vergangenen Jahres zu erklären: „Wem diente der Anschlag vom 11. September?“, fragt Vater Ali dunkel, „auf keinem Fall dem Islam.“ Man sollte doch einmal die vollständigen Passagierlisten der Attentatsflugzeuge veröffentlichen, nicht nur die Namen der muslimischen Passagiere. „Der Anschlag kam nicht direkt von den Muslimen, sie hatten auch nicht die Idee dazu – höchstens deren Hände könnten dazu genutzt worden sein. Der Anschlag war fünf Nummern zu groß.“ Am 12. September sei sie von Mitschülern bedroht worden, erzählt Nada: „Nach der Schule werden wir dich köpfen.“ Da habe sie doch bestimmt Angst gehabt? „Nö“, sagt Nada.

Was vielen Juden in Deutschland die Militärpolitik Scharons ist, sind für Palästinenser die Selbstmordattentate: etwas, was man verstehen müsse. Ein Übel, an dem am Ende der andere schuld sei: „Die Selbstmordattentate sind eine Reaktion eines wehrlosen Volkes, das mit modernsten Waffen von der israelischen Armee angegriffen wird“, sagt Ahmed. „Die Palästinenser haben keine Zukunft. Sie wurden erniedrigt und gedemütigt. Was haben sie noch zu verlieren?“ In dem Alter, in dem die Selbstmordattentäter sind, baue man seine Zukunft. „Sie aber haben keine. Sie sind schon tot.“ Ahmed hat sich in Fahrt geredet: „Das ist keine Rechtfertigung, sondern eine Erklärung, was vorgeht in ihren Köpfen.“ Palästinenserpräsident Jassir Arafat ruft mit dramatisch geöffneten Augen hinter seiner Krankenkassenbrille etwas in die Kamera.

Was halten sie von den Anschlägen auf Synagogen in Frankreich, Belgien und Deutschland? „Durch die Anschläge hier werden die Palästinenser nur schlecht gemacht“, sagt Aiman. „Es gibt keinen Antisemitismus unter den Palästinensern“, betont Vater Ahmed. „Das ist Propaganda. Früher gab es das vielleicht. Aber heute wird das Wort Antisemitismus nur ausgenutzt. Außerdem sind wir selber Semiten.“ Ahmed scheint die Fallstricke der deutschen Diskussion über den Nahostkonflikt zu kennen: Er redet nie von „Juden“, immer nur von „Zionisten“.

Fayez ist unbefangener: „In den USA sind 80 Prozent der Lokalpresse in jüdischer Hand“, sagt er unvermittelt. „Meine Meinung ist bloß“, erklärt er später, „das Volk der vermeintlichen Opfer ist heute das Volk der Täter.“ Was er mit „vermeintlich“ meine? Norman Finkelstein habe ja auch ein Buch über die Instrumentalisierung des Holocaust geschrieben, sagt er ausweichend, und der sei Jude. Noch einmal: Was solle das heißen: „vermeintliche Opfer“?

„Viele Historiker zweifeln, ob wirklich sechs Millionen Juden umgebracht wurden“, sagt Fayez. Der junge Mann ist wieder bei seiner Weltverschwörung, bei einer jüdischen, wie zu vermuten ist: „Es ist alles geplant. Schon mit Theodor Herzl hat es angefangen. Das jüdische Volk redet nicht, es handelt. Und das machen wir auch.“

Freunde der Alis sind gekommen. Jamila redet mit einer jungen Mutter, deren Baby ausdauernd mit einer Rassel spielt. Ahmed blättert in ein paar Notizzetteln, mit denen er sich für das Gespräch vorbereitet hat. Er liest einige Stellungnahmen eines ultraorthodoxen US-Rabbiners vor, der sich gegen den Staat Israel ausspricht. Der Geistliche scheint in arabischen Sendern derzeit ein gern gesehener Gast zu sein, denn als der Fernseher später noch einmal angemacht wird, ist just dieser Rabbi, samt schwarzem Hut und Schläfenlocken, im Interview zu sehen.

Klar: Ahmed will sich nicht in eine antijüdische Ecke stellen lassen. „Wir Palästinenser können gar nicht gegen die Juden sein. Wir haben Jahrtausende mit ihnen in einem Land zusammengelebt.“ Aber der Zionismus bringe Unruhe in die Region. „Ich bin gegen die zionistische Ideologie“, sagt Ahmed, „die Zionisten wollen keinen Frieden.“ Glaubt man dem palästinensischen Familienvater, so spielten die „Zionisten“ ihre Macht auch hier in Deutschland aus: „Die zionistische Bewegung nutzt den Holocaust bei der Kritik an Israel aus, um hier alles zum Schweigen zu bringen.“ Das betreffe auch die Berichterstattung über den Konflikt: „In den westlichen Medien gibt es keine Meinungsfreiheit bei der Kritik an Israel. Die zionistische Lobby übt Druck aus, dass solche Kritik nicht kommt.“

Die beiden jüngeren Kinder, Aiman und Nada, halten sich mit ähnlichen Sprüchen zurück – aber was sie denken, vor allem: was sie fühlen, wird dennoch klar: „Meine deutschen Mitschüler verstehen gar nicht, was ich sage, wenn ich von Palästina rede. Nur meine palästinensischen Freunde fühlen mit mir“, sagt Nada. „Ich kenne einige russische Juden hier in Berlin“, erzählt Aiman, „aber ich verkehre nicht mit ihnen. Wir sagen nur mal ‚Hallo‘ oder ‚Tschüss‘. Das liegt an den Spannungen. Man hat immer Hintergedanken.“

Was gibt es noch zu fragen? Fayez zeigt die Tür zu seinem Zimmer. Ein Gedicht von Erich Fried hat er dort angebracht, daneben ein Zeitungsausschnitt, auf dem jugendliche Palästinenser beim Steinewerfen abgelichtet sind. Auf einem anderen Ausriss verbrennt ein Vermummter mit Palästinenserschal gerade eine israelische Flagge. Auch das Sterben des jungen Mohammed al-Durrah ist noch einmal zu sehen. Fayez hat eines der Fotos mit Bleistift abgezeichnet. Er hat sich viel Mühe gegeben.

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