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„Erfüllung sehr gut“

Im Prozess wegen Erschießung an der DDR-Grenze 1976 beruft sich Ex-MfS-Leutnant auf Erinnerungslücken. Einen Vernichtungsbefehl habe es aber nicht gegeben

Die tödlichen Schüsse auf den DDR-Regimekritiker Michael Gartenschläger vor 26 Jahren sind nach Aussagen des früheren Chefs eines Stasi-Sonderkommandos nicht geplant gewesen. In dem Prozess am Berliner Landgericht wegen eines der spektakulärsten Todesfälle an der innerdeutschen Grenze wies der frühere Stasi-Leutnant am Dienstag als Zeuge den Vorwurf der Vernichtung des „Grenzverletzers“ zurück. Der heute 54-Jährige berief sich zudem auf Erinnerungslücken.

Die Staatsanwaltschaft wirft zwei früheren Stasi-Offizieren Totschlag vor. Das Verfahren gegen ihren Vorgesetzten, Exgeneral Karl Kleinjung, war aus gesundheitlichen Gründen abgetrennt worden. Die beiden ehemaligen Offiziere sollen verantwortlich für einen Befehl sein, nach dem Täter, die die DDR-Grenzanlagen verletzten, „festzunehmen oder zu vernichten“ seien. Der aus DDR-Haft vom Westen freigekaufte Gartenschläger starb 32-jährig im Kugelhagel in der Nacht zum 1. Mai 1976. Er hatte versucht, vom Westen aus Selbstschussanlagen an der DDR-Grenze abzubauen. Zuvor hatte er bereits zweimal „Todesautomaten“ erfolgreich demontiert. Ihre anschließende öffentliche Präsentation hatte die DDR weltweit bloßgestellt.

Drei Angehörige des Stasi-Sondertrupps erschossen den jungen Mann an der Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass auf den 32-Jährigen weiter geschossen wurde, als er schon verletzt am Boden lag. Die drei vermeintlichen Schützen waren im März 2000 vom Landgericht Schwerin freigesprochen worden.

Der Zeuge, Untergebener des angeklagten Ex-Stasi-Oberstleutnants, befehligte das Sondereinsatzkommando der Stasi, das „in den provokationsgefährdeten“ Grenzabschnitt geschickt worden war. Er habe nur die Aufgabe gehabt, Grenzverletzer festzunehmen, damit diese „öffentlich an den Pranger“ gestellt werden könnten. Bei den Einsatzbesprechungen sei nicht von Liquidierung die Rede gewesen. Er habe die speziell ausgebildeten „sozialistischen Ranger“ als Kämpfer für den Grenzeinsatz ausgesucht, sagte der frühere Stasi-Leutnant, der für „Kaderfragen“ im Stasi-Ministerium zuständig war. Erst nach Präsentation des damaligen Einsatznachweisbuches konnte sich der Mann gestern an seinen Eintrag nach der Todesnacht erinnern. Er hatte notiert: „Erfüllung sehr gut“. Zum Maßnahmeplan zur „Festnahme und Vernichtung der Grenzverletzer“ meinte der Zeuge: „Es wurde viel geschrieben und was anderes durchgeführt.“

Der Vorsitzende Richter Hartmut Füllgraf hielt dem Zeugen vor, es bestehe der gleiche Verdacht wie bei dem angeklagten Ex-Stasi-Oberstleutnant. Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz sagte, möglicherweise müsse die Einleitung eines Verfahrens gegen den Zeugen geprüft werden. Ein erstes Verfahren gegen den Mann war eingestellt worden. Ein im ersten Gartenschläger-Prozess freigesprochenes Mitglied des damaligen Sonderkommandos verweigerte am Dienstag die Aussage als Zeuge.

DPA/ DDP/TAZ

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