: Menschenkunst
Wallewalleschleier, Pastelkreide, „appe“ Ecken – wenn das alles ist, was einem zum Thema Antroposophie einfällt, hat man etwas verpasst: die Alanus Hochschule in Bonn
von JUDITH LUIG
„Da geht das Leben zur Sache“, sagt Heiko Starck. Sein Blick fällt auf die Raffinerien von Köln und Bonn, auf rauchende Schornsteine und graue Hallenlabyrinthe. Starck steht weit weg davon, auf der Alfterer Höhe, dem Gelände der Alanus Kunsthochschule. Hier ist es grün und idyllisch. Ein idealer Ort zum Nachdenken, Alleinsein, Schöpferischwerden.
Seit ihrer Gründung 1973 vereint die private Hochschule künstlerische Fächer, wie Architektur, Malerei, Bildhauerei oder Sprachgestaltung mit dem Auftrag, die Kunst sozial wirksam zu machen. Heiko Starck, der erst seit ein paar Monaten die Presse und Öffentlichkeitsarbeit für die anthroposophische Hochschule macht, ist begeistert von dem kreativen Miteinander der 250 Studenten, von denen einige auch auf dem Johannishof oder dem Schloss, das zur Hochschule gehört, leben. Besonders gefällt ihm aber die jüngste Entwicklung, der er selbst seinen Job verdankt. Wie es Andreas Reichel, Dozent für Malerei, darstellt: „Wir öffnen uns nach allen Richtungen, Steiner ist nicht mehr die Inspiration, sondern der Einzelne.“
Auch das ist Programm: Mit der Abgeschlossenheit im elitären Kreis von Gleichgesinnten wollen Dozenten und Studenten hier nichts zu tun haben. Waldorf-Klischees wie Frauen mit Wickeltüchern um den Kopf und grün-rot gestreifte Nikki Pullis mischen sich ganz normal mit blauen Steppjacken und schwarzen Rollkragen. Die Überbetonung von Wallewalleschleier, Pastellkreide und „appe Ecken“ ist Vergangenheit.
Ein Sprecher ist nicht das erste Projekt in Richtung Öffnung. Weitere Bemühungen sind der Antrag auf staatliche Anerkennung, sowie das eben entstehende Werkhaus, das zur nächsten Sommerakademie Gäste aufnehmen soll. Zur Feier des diesjährigen Diplomabschlusses sind jede Menge Neugierige und Kunstbegeisterte zu dem etwas abseits gelegenen Gelände heraufgefahren. Sie bewundern die Stahlskulpturen im Gewächshaus oder betrachten die künstlerische Umsetzung des Märchens Rotkäppchen mit Eigenblutverarbeitung. Einige schwören auf die Bootperformance mit vier Tauchern, einem Feuer und einem Radio auf dem Hof, andere bevorzugen die gleitenden Bewegungen der Eurythmistin während ihrer Aufführung im großen Saal.
Dann trifft man sich am Waffelstand, um sich über die Eindrücke auszutauschen. Die Atmosphäre auf dem Fest spiegelt auch das Programm der Hochschule wieder. „Kunst für Menschen, nicht nur für die Galerie“, so sagt Thomas Egelkamp. Umgesetzt wird das Konzept durch die Verbindung der künstlerischen Ausbildung mit sozialen Qualifikationen durch Fächer Kunst – und Kulturpädagogik sowie die Kunsttherapie.
Zusätzlich zu seinem Fach lernt hier jeder angehende Künstler in einer einjährigen Ausbildung, mit seiner Fähigkeit etwas zu bewegen. Die Studenten leiten Malgruppen in der Bonner Drogenberatung, hauen Steinskulpturen mit Fabrikarbeitern bei Ford oder basteln mit Häftlingen im Strafvollzug. Egelkamp erklärt den Hintergrund dieser Aktivitäten. „Durch die Beschäftigung mit ihrer eigenen Kreativität, durch das Schaffen eines Werkes finden die Menschen zu sich selbst.“
Auch eine der klassischsten anthroposophischen Künste, die Sprachgestaltung, kann nicht nur vorgeführt, sondern sogar ganz konkret zur Hilfe für andere angewendet werden. „Unsere Studenten arbeiten mit benachteiligten Jugendlichen, die Probleme beim Vorstellungsgespräch haben“, sagt Sabine Eberleh. Wer seiner Stimme Kraft, seiner Gebärde Ausdruck verleihen kann, der steigert auch sein Selbstwertgefühl. Mit ihrer Kombination aus Kunst und Sozialem bietet die Hochschule ihren Studenten angewandte Kreativität. Ein Studium hier ist nicht nur eine Ausbildung im künstlerischen und landschaftlichen Idyll, es ist auch eine Erziehung zur Menschlichkeit. Wie Heiko Starck es ausdrückt, als er auf die Fabriken im Tal blickt: „Man verliert hier oben die Realität nicht aus dem Auge.“
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