: Das Komma setzen, wo man atmet
Viele ehemalige Waldorfschüler arbeiten heute erfolgreich in Medien, Kunst und Sport. Auch in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft sind sie gelandet. Was prominente Waldorfschüler aus ihrer Schulzeit ins Leben gerettet haben
von PHILIPP MAUSSHARDT
Der Berühmteste aus meiner Klasse bin noch ich selber. Ansonsten wäre mir entgangen, dass es ein Schüler meines Jahrgangs aus der Waldorfschule in Reutlingen zu so etwas gebracht hätte, was man wirklich prominent nennen könnte. O.k., eine Hotelmanagerin ist darunter und ein Berufsfeuerwehrkommandant. Aber niemand, mit dem man hinterher hätte angeben können: „Der war in meiner Klasse!“ Kein Harald Schmidt, keine Jenny Elvers.
„Normal bleiben, 3er schreiben“, das war unser Gesetz, als es in der 12. Klasse zum ersten Mal echte Noten gab. In den Jahren davor waren wir von unseren Lehrern nach unserem Charakter bewertet worden. „ … könnte, wenn er wollte, mehr leisten“. Streber kriegten Klassenprügel.
Umso erstaunter war ich, als ich kürzlich eine Namensliste in die Hände bekam, von lauter berühmten Menschen, die alle Schüler einer Waldorfschule gewesen waren. Eigentlich ein Widerspruch in sich, dachte ich. Waldorfschüler leuchten doch nach innen! Und Heiner Lauterbach im Eurythmieunterricht – ich kann es mir auch jetzt einfach nicht vorstellen.
Aber er war ebenso Rudolf-Steiner-Schüler wie die nun auch nicht gerade als Anthroposophin bekannte Barbara Becker oder das ehemalige „Bond-Girl“ Cecilie Brask Thomsen („Tomorrow never dies“). Dieser Liste zufolge scheinen Waldorfschulen vor allem das schauspielerische Talent unter ihren Abgängern zutage gefördert zu haben. Selbst wenn man bedenkt, dass ein nur einigermaßen erfolgreicher Filmdarsteller schneller als berühmt gilt als ein über die Maßen hervorragender Zimmermann oder Sozialarbeiter, so fällt die Häufung gerade des Mimenberufs unter den Waldorf-Promis doch gewaltig auf: Jennifer Aniston, Sandra Bullock, Raimund Harmstorf, Rutger Hauer, Nastassja Kinski, Rainer Werner Fassbinder, Martin Lüttge, Will Quadflieg, Samuel Weiss, Martin Semmelrogge. Und es sind dies längst nicht alle, die nach der Steiner-Schule Karriere auf Bühnen und vor Kameras machten.
Als Martin Semmelrogge noch zu seiner Schulzeit in München-Schwabing einen ersten Auftrag vor einer Kamera erhielt, sahen das die Lehrer gar nicht gern, erinnert er sich. Immerhin galt Fernsehen damals vielen Lehrern grundsätzlich als schädlich. „Aber ich hatte einen tollen Lehrer, der einmal Boxer gewesen war und uns immer wieder sagte, wichtig sei, dass man hinter seiner Entscheidung stehen kann.“ Semmelrogge entschied sich: verließ die Schule vorzeitig und wechselte auf die Schauspielschule. Was er den Waldorfs noch heute dankt: „Sie haben mich nicht gequält und ich habe gelernt, wo Bartel den Most holt.“ Ihm, sagt Fernsehmoderator und Ex-Waldorfschüler Thomas Koschwitz, sei in seiner Marburger Waldorfschule immer gesagt worden, Fernsehen sei „Gift im Haus“. Ihm kam das schon damals „ziemlich verstaubt“ vor, zumal man doch gerade „als Kritiker wissen muss, warum man die Kiste ausschaltet“. Insofern hat Koschwitz auch heute noch den Eindruck, Waldorfschüler würden „in Naivität die Schule verlassen“, hätten aber auf der anderen Seite „ein gesundes Gefühl für die Bandbreiten des Lebens“. Was er aus seiner Schulzeit mitgenommen habe? „Ich liebe Menschen.“ Ein Satz, von dem er glaubt, „dass ein Zyniker wie Harald Schmidt ihn nie verstehen wird“.
Samuel Weiss, Star am Hamburger Schauspielhaus, schämt sich immer ein wenig, wenn er ein offizielles Schreiben losschickt. Dann weiß er nämlich, „dass wahrscheinlich kein Komma richtig gesetzt ist, weil wir gelernt haben, dort Kommas zu setzen, wo man atmet.“ Aber es gibt ja im Leben auch Wichtigeres. Theaterspielen zum Beispiel: Weiss denkt schon, dass die Waldorfschule Mitschuld trägt an seinem „spielerischen Zugang zum Leben. So etwas entwickelt sich nur ohne äußeren Druck und Zwang.“
Genug der Schauspieler.
Viel erstaunlicher ist, dass bei der praktizierten Fußball-Distanz der Waldorfianer aus ihren Reihen sogar ein leibhaftiger Profikicker entsprang: Klaus Wunder spielte zuletzt für Werder Bremen. Überhaupt ist die Bandbreite prominenter Persönlichkeiten bemerkenswert: Mit Gastao Filho ein Gokart-Weltmeister. Mit Vendela Kirsebom ein schwedisches Topmodel. Der Chef von American Express, Kenneth Chennault, oder Jens Stoltenberg, Expremierminister von Norwegen – Menschen also wie du und ich.
Und allen, die noch immer gerne erzählen, Waldorfschüler schwebten weltfremd zehn Zentimeter über dem Boden durch die Welt und hätten zeitlebens Schwierigkeiten, sich im harten Wirtschaftsgefüge ihren Platz zu erobern, denen darf man noch zwei Namen ehemaliger Schüler um die Ohren hauen, die in ihren Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft nicht gerade durch verklärte Auftritte von sich reden machten: Exbundesbankchef Karl Otto Röhl und der amtierende Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Michael Rogowski. „Die Spannbreite der Themen, die uns Schülern zusätzlich zu Schreiben und Rechnen vermittelt wurde, war ungemein groß“, sagt Rogowski heute. Er schätzt an seiner Schulkarriere „die Erziehung zur Selbstständigkeit in Freiheit“ – vorausgesetzt natürlich, „man trifft auf die richtigen Lehrer“.
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