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„Eine Distanzierung vom Unrecht“

Interview CHRISTIAN RATH

taz: Herr Rzepka, 1945 haben verschiedene Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš die entschädigungslose Enteignung der Sudetendeutschen angeordnet. Was wäre die Folge, wenn diese Dekrete heute aufgehoben würden?

Walter Rzepka: Da muss man sehr genau unterscheiden, ob die entsprechenden Dekrete „ex tunc“, also rückwirkend, oder „ex nunc“, das heißt: nur für die Zukunft, aufgehoben werden. Davon hängt sehr viel ab.

Und was wäre die Folge einer rückwirkenden Aufhebung?

Dann wären die Eigentumsverhältnisse wieder so wie vor dem Sommer 1945.

Das hieße, das Eigentum an Grundstücken und Unternehmen läge wieder bei den Sudetendeutschen beziehungsweise ihren Erben?

Ja, denn die Enteignung wurde damals direkt durch die Dekrete verwirklicht. Es waren keine weiteren Verwaltungsakte mehr erforderlich. Und wenn die entsprechenden Dekrete im Nachhinein für nichtig erklärt würden, wäre rechtlich der alte Zustand wiederhergestellt.

Insofern ist doch die Aufregung in der Tschechischen Republik berechtigt?

Nein, denn die besonnenen Kräfte – und das sind nicht wenige in Deutschland – meinen, wenn sie von einer „Aufhebung der Beneš-Dekrete“ sprechen, eine Aufhebung „ex nunc“, also nur für die Zukunft.

Und welche Folgen hätte eine Aufhebung für die Zukunft?

Juristisch hätte das keine Folgen. Die Enteignungen von einst blieben weiter bestehen. Es wäre aber eine klare Distanzierung vom damaligen Unrecht: der kollektiven Haftung aller Sudetendeutschen für die Verbrechen der Nazis.

Das tschechische Abgeordnetenhaus hat im April eine Resolution angenommen, in der es heißt, dass die Beneš-Dekrete „in der Zeit nach ihrem Erlass verbraucht“ wurden. Was ist damit gemeint?

Damit wird betont, dass von den Dekreten heute keine neuen Rechtswirkungen mehr ausgehen können – was ja auch richtig ist: Eine Enteignung kann eben nur einmal stattfinden, dann ist das Eigentum übergegangen.

Sind Sie mit dieser Erklärung also zufrieden?

Nein, denn sie enthält keinerlei Distanzierung vom damaligen Unrecht. Das tschechische Abgeordnetenhaus hat damit eine große Chance vergeben.

In der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 hat die Prager Regierung doch ausdrücklich bedauert, „dass unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung“. Genügt Ihnen das nicht?

Die Erklärung, in der ja auch die deutschen Verbrechen angesprochen werden, ist gut. Aber in der tschechischen Innenpolitik wird sie immer so verstanden, dass damit nur einzelne Exzesse bedauert werden – während die Vertreibung an sich in Ordnung war. Die Folge sehen wir heute: Die tschechischen Politiker sind nicht in der Lage, die Beneš-Dekrete für die Zukunft aufzuheben.

Das tschechische Verfassungsgericht hat den Vorwurf, die Dekrete seien offensichtliches Unrecht, 1995 ausdrücklich abgelehnt. Die Richter betonten, dass dort nur eine „widerlegbare Vermutung“ für die Verantwortung aller Sudetendeutschen für die Nazi-Gräuel enthalten war …

Diese Widerlegbarkeit stand doch nur auf dem Papier. Ich habe die Vertreibung so erlebt: Da ist einer mit der Klingel durch den Ort gelaufen und hat dazu aufgefordert, dass man sich in zwei Stunden auf dem Marktplatz einzufinden habe. Dann wurde man auf Lastwagen zum Sammellager gebracht und von dort per Zug über die Grenze. Da war keinerlei individuelle Prüfung.

Man konnte also nicht vorbringen, dass man eigentlich Nazigegner war?

Bei wem denn? Das darf man sich nicht so vorstellen wie ein rechtsstaatliches Verfahren mit Anhörung und Rechtsmittelbelehrung. Da wurden erwiesene Antifaschisten genauso enteignet wie Juden, die gerade aus dem KZ nach Hause kamen.

Haben nicht solche Personen heute die Chance, ihr Eigentum wiederzubekommen oder wenigstens eine Entschädigung?

Die offiziellen Restitutionsgesetze gelten nur für die Enteignungen der kommunistischen Zeit, also ab 1948, nicht für die Enteignung und Vertreibung der Deutschen drei Jahre zuvor. Aber man hört ab und zu, dass es bei der Enteignung antifaschistischer Deutscher, die heute heute noch in Tschechien leben, individuelle Lösungen gibt. Vermutlich wird argumentiert, dass hier die Beneš-Dekrete nicht anwendbar waren und insofern die Enteignung auch nicht stattgefunden hat.

Wie groß ist die Gruppe der expliziten Antifaschisten unter den Vertriebenen?

Ich kann keine Zahlen nennen, aber es sind vermutlich nicht besonders viele. Die größte Gruppe machen diejenigen aus, die weder Antifaschisten noch Nazis waren. Aber auch sie wurden alle von der Kollektivschuldthese erfasst.

Die Sudetendeutschen haben doch im Jahr 1938 zu über 90 Prozent die pronazistische Sudetendeutsche Partei gewählt, die offen für den Anschluss ans Reich eintrat. Kann man da nicht von einer Kollektivverantwortung für die Zerschlagung und Besetzung der Tschechoslowakei sprechen, mit zigtausenden Toten?

Nein. Die Sudetendeutschen wollten den Anschluss an Deutschland, weil sie 1919 gegen ihren Willen der Tschechoslowakei zugeordnet wurden und alle Arrangements in diesem Staat scheiterten. Aber den meisten Sudetendeutschen ging es nicht um eine gezielte Unterstützung der Nazis und ihrer späteren Besatzungspolitik. Da mag es eine gewisse Kausalität gegeben haben, aber eine Schuld im strafrechtlichen Sinne sehe ich nicht.

Im Strafrecht gehört die Frage nach individueller Schuld dazu, nicht aber im Polizeirecht, wo die Verantwortung für eine Gefahr genügt …

Welche Gefahr?

Die Gefahr, dass die Sudetendeutschen nach 1945 in der Tschechoslowakei erneut für Unruhe sorgen und weiter auf einen Anschluss an Deutschland hinarbeiten. Konnte man die kollektive Vertreibung nicht mit dieser eher polizeirechtlichen Argumentation rechtfertigen?

Ich bitte Sie! Auch im Polizeirecht sind die Menschenrechte zu beachten. Man kann doch nicht alle potenziellen Unruhestifter aus einem Staat vertreiben. Bosnien kann ja auch nicht alle dortigen Serben einfach nach Jugoslawien schicken. Die Vertreibung der Sudetendeutschen war nach damaligen und heutigen Maßstäben eine unzulässige Kollektivsanktion, daher völkerrechtswidrig.

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