: Wahlkampf gegen die Tschechen
Stoiber bleibt oberster Schutzherr der Sudetendeutschen. Weil inzwischen auch Rot-Grün die Aufhebung der Beneš-Dekrete fordert, setzt Kanzlerkandidat Stoiber noch eins drauf: Wenn die Tschechen störrisch bleiben, dürfen sie eben nicht in die EU
von LUKAS WALLRAFF
Für Edmund Stoiber gibt es zwei Termine im Jahr, auf die er sich besonders freut: Das sind der politische Aschermittwoch der CSU in Passau und das Pfingstreffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Nürnberg. Hier wie dort wird zu seiner Begrüßung der bayerische Defiliermarsch gespielt, hier wie dort ist er unter guten Freunden, die in Nibelungentreue fest zur CSU stehen und bei jedem Stoiber-Satz begeistert jubeln. So war es auch am Sonntag. Nur die Aufmerksamkeit außerhalb der Frankenhalle war größer als in den Jahren zuvor.
Warum, erklärte Stoiber selbst. „Sie wollen wissen“, begann er sein traditionelles Grußwort, „was der möglicherweise neue Bundeskanzler sagen wird.“ Und damit erst gar keine Zweifel aufkommen konnten, Stoiber könnte seine angestammte Klientel, den „vierten Stamm Bayerns“, im Bundestagswahlkampf vernachlässigen, versicherte er: „Auch als Kanzlerkandidat stehe ich zu dem, was ich als Ministerpräsident gesagt habe.“ Gemeint war seine Unterstützung für die Forderung, die Beneš-Dekrete aufzuheben.
Diese Dekrete wurden zwischen 1945 und 1947 vom damaligen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš erlassen und dienten als Grundlage, um 2,5 Millionen Sudetendeutsche zu vertreiben und ihr Eigentum vom Staat zu konfiszieren. Verbrechen gegen Deutsche wurden für straffrei erklärt.
Die Sudetendeutschen fordern Prag auf, die Beneš-Dekrete offiziell aufzuheben, die tschechische Regierung lehnt dies ab. Dieser Streit tobt seit Jahren, doch im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen hat er an Schärfe zugenommen.
Noch am Samstag, der Sudetendeutsche Tag lief bereits, schoss der tschechische Vize-Ministerpräsident Vladimír Špidla erneut einen giftigen Pfeil ab. In einem Interview bezeichnete Špidla das Treffen der Sudetendeutschen als „Randerscheinung“. Ihre Vertreibung aus der damaligen Tschechoslowakei rechtfertigte er als „Quelle des Friedens“. Ausdrücklich unterstützte Špidla auch die Äußerungen des Ministerpräsidenten Miloš Zeman, der die Sudetendeutschen als „fünfte Kolonne Hitlers“ bezeichnet hatte.
Der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe, der bayerische Landtagspräsident Johann Böhm (CSU), sprach daraufhin von einem „Rückfall in finstere Zeiten“ und „einsichtslose Verstocktheit“ der tschechischen Regierung.
Vor diesem Hintergrund hielt es Stoiber für angebracht, die Sudetendeutschen noch deutlicher zu unterstützen als jemals zuvor – und vor allem deutlicher als die rot-grüne Bundesregierung. Also erklärte der Kanzlerkandidat die Aufhebung der Beneš-Dekrete zum „Gradmesser“ und stellte den EU-Beitritt der Tschechen in Frage. „Wer im Jahr 2002 in Europa Vertreibung und Entrechtung verteidigt, die über 57 Jahre zurückliegen, der muss sich von allen Europäern fragen lassen, wie europatauglich er ist.“ Der Bundesregierung warf Stoiber vor, sich zu wenig für die Vertriebenen einzusetzen. „Das bloße Stillhalten und das Verschweigen führt zu nichts.“
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) half es schon am Vortag bei seinem Auftritt vor den Sudetendeutschen wenig, dass er ebenfalls die Aufhebung der Beneš-Dekrete forderte. Für seine weiteren Ausführungen erntete Schily Pfiffe und Buhrufe. Anders als Stoiber rief er die Vertriebenen nämlich dazu auf, bei einer Aufhebung der Beneš-Dekrete im Gegenzug auf materielle Ansprüche zu verzichten. Anders als Stoiber lehnte er auch eine Verknüpfung der Beneš-Dekrete mit dem EU-Beitritt ab. Besonderen Unmut erntete Schily für seine Feststellung, dass „vergangenes Unrecht der Vergangenheit angehört“.
Stoiber dagegen versprach, dass er als Kanzler die Vergangenheit „nicht auf sich beruhen lassen“ werde. Genau das empörte gestern Außenminister Joschka Fischer (Grüne): Wenn Stoiber ein zusätzliches Hindernis für den EU-Beitritt Prags aufbauen wolle, so wäre dies eine „schwere Schädigung deutscher Interessen“, schimpfte Fischer. Eine andere Möglichkeit sah der Außenminister allerdings auch: Vielleicht wolle Stoiber die Sudetendeutschen „kühl kalkuliert vor den Wahlen betrügen“ – wohl wissend, dass seine Forderungen nicht zu realisieren seien.
Dafür spricht eine Stellungnahme des EU-Kommissars Günter Verheugen, der für die Erweiterung zuständig ist. „Jene Dekrete entfalten heute keine neuen rechtlichen Wirkungen mehr. Sie sind kein Gegenstand des Beitrittsprozesses“, betonte Verheugens Sprecher am Samstag in Brüssel. Aber das hat in Nürnberg niemand interessiert.
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