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„Wie Vorkriegsgeschrei“

Da Tschechien erneut die Vertreibung der Sudentendeutschen verteidigt, werden in Brüssel Zweifel an der Europafähigkeit des EU-Beitrittskandidaten laut

BRÜSSEL taz ■ Spätestens gestern, als im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments der Bericht über den Stand der Erweiterungsverhandlungen abgestimmt wurde, hatte die Aufregung um die Benes-Dekrete Brüssel erreicht. Mehrere Abgeordnete äußerten sich schockiert über die zynischen und rückwärtsgewandten Kommentare aus Prag. Der sozialdemokratische Abgeordnete Klaus Hänsch sagte, niemand habe sich vorstellen können, „dass es verantwortliche tschechische Politiker gibt, die das Thema wieder hochziehen“. Am Wochenende hatte Tschechiens Ministerpräsident Milos Zeman den Sudentendeutschen vorgehalten, sie hätten schließlich „heim ins Reich“ gewollt. Und dahin hätte man sie dann auch geschickt.

Zugleich nahm Hänsch seinen deutschen Parteifreund und Erweiterungskommissar Günter Verheugen in Schutz. Diesem könne nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe die Brisanz des Konflikts unterschätzt. Niemand in der EU stelle die 1945/46 geschaffenen Eigentumsverhältnisse in Frage. Es gehe nicht um Wiedergutmachung eines materiellen Schadens, sondern darum, „den Schaden auf der Seele zu heilen“.

Einige tschechische Politiker seien, so Hänsch weiter, jetzt dabei, die Wunden neu aufzureißen. „Diese Töne aus der Nachkriegszeit, die nicht in die EU von heute passen, machen es schwer, unbefangen an die Europafähigkeit der Tschechischen Republik zu glauben“, sagte Hänsch.

In einem neu eingefügten Passus des Berichtes über den Stand der Beitrittsverhandlungen Tschechiens verlangen die Abgeordneten für den Fall, „dass die gegenwärtige tschechische Rechtsordnung immer noch diskriminierende Formulierungen enthält, diese spätestens bis zum Zeitpunkt des EU-Beitritts beseitigt sind“. Das Parlament werde Tschechiens EU-Beitritt nur zustimmen, wenn ein Rechtsgutachten feststelle, dass die Benes-Dekrete keine negativen Auswirkungen auf die heutige Rechtsordnung entfalten können.

Mitte Mai hatte das Präsidium des Europäischen Parlaments den Heidelberger Völkerrechtler Jochen Frowein mit einer derartigen Untersuchung beauftragt. Inzwischen gibt es Überlegungen, den Luxemburger Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Marc Fischbach, hinzuzuziehen. Es sei psychologisch geschickter, wenn die Studie keine deutsche Unterschrift trage, hieß es in Parlamentskreisen. Das Gutachten soll prüfen, welchen Stellenwert die Benes-Dekrete im Völkerrecht haben und ob sie mit den geltenden EU-Rechtsvorschriften vereinbar sind.

Tatsächlich tut Aufklärung not. Denn selbst diejenigen Parlamentarier, die sich im Auswärtigen Ausschuss speziell mit Tschechien befassen, wissen nicht genau, was in den Dekreten steht. Der konservative Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok, hofft mit einem derartigen Gutachten die Debatte zu versachlichen. Die derzeitigen Pauschalurteile auf beiden Seiten erinnerten ihn an „Vorkriegsgeschrei“. Zwischen der Befreiung im Mai 1945 und der Einrichtung eines provisorischen Parlaments im Oktober erließ Edvard Benes 143 Dekrete, von denen nur zwei für den aktuellen Streit eine Rolle spielen. Das Dekret vom 19. Mai regelt die „Nationalverwaltung der Eigentumswerte der Deutschen, Madjaren, Verräter und Kollaborateure“, das vom 21. Juni die „Konfiskation und die beschleunigte Aufteilung des landwirtschaftlichen Eigentums der Deutschen, Madjaren wie auch der Verräter und Feinde des tschechischen und slowakischen Volkes“. Experten glauben, dass in Einzelfällen die Rechtsfolgen dieser Dekrete noch wirksam werden können – für Deutsche und für Ungarn, die damals in der Tschechoslowakei lebten. DANIELA WEINGÄRTNER

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