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Talmudjude versus Muskeljude

Als Theodor Herzl zum Soundtrack von Wagners Tannhäuser[1]den „Judenstaat“ ersann, fürchteten nicht wenige, er habe den Verstand verloren. Dieser Schwärmer, Wiener Korrespondent bei den Dreyfus-Prozessen und Verfasser utopischer Literatur, hatte ein Hirngespinst in die Welt gesetzt: In seiner Vision zog er Juden aus aller Herren Länder in Palästina zusammen. Israel sollte das Sammelbecken für europäische, orientalische, russische, amerikanische, sephardische, aschkenasische, säkularisierte und orthodoxe Juden sein, so seine nationalistisch-romantische Utopie. Nur so würden sie dem in aller Welt grassierenden Antisemitismus entkommen können. Nur so konnte die „Judenfrage“ gelöst werden. Und ausgerechnet diese aberwitzige Fiktion, Kulminationspunkt ungezählter eskapistischer Träume, unerfüllter Sehnsüchte und pathetischer Projektionen war es, die – wider alle Wahrscheinlichkeit – Gestalt annehmen und Wirklichkeit werden sollte.

Seit der Gründung des Staates im Jahre 1948 schien der konstitutive Gegensatz zwischen Exil und Erlösung, zumindest im Verständnis der Zionisten, aufgehoben zu sein. Ahasver durfte den Rucksack ablegen. Man war angekommen. Noch 1996 hielt Israels damaliger Staatspräsident Eser Weizman es für nötig, vor dem Deutschen Bundestag zu erklären: „Ich bin nicht mehr der in allen Wegen der Welt wandernde, von einem Exil ins andere vertriebene Jude.“

Man las die Geschichte des jüdischen Volkes teleologisch, die Ausrufung des Staates Israel – des legitimen Erben des Königreichs Davids – würde das Happy End einer leidensreichen Geschichte sein. So durften die Juden letztendlich in einer Menge von Juden untertauchen, die sensationelle Verheißung der „Normalität“, welche die Diaspora, vielleicht mit Ausnahme der USA, nicht hatte einlösen können, wurde hier Realität. Hier waren alle Juden, die religiösen Fundamentalisten, die halbnackten Frauen am Strand, die Polizisten, die Kriminellen, die Richter, die Soldaten. Ob guter Jude, jehudi tov, ob schlechter Jude, jehudi ra, ob Patriarch oder Pate, alle waren in dieser Hinsicht gleich. Das war das Bahnbrechende.

In den Selbstbeschreibungen israelischer Gründungsmythen ist Eres Israel „wie ein Phönix“ aus der Asche von Auschwitz auferstanden. Neben den Pionieren, die Palästina schon vor und während der Zeit der Vernichtung bewohnt hatten, stellten gerade die Überlebenden der Schoah den „Grundstock“ der israelischen Bevölkerung dar, die Kolonie war zu einem Asyl geworden für wandelnde Albträume und Rachegedanken, Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten, die eine „Mauer der Selbsterhaltung“ um sich errichten mussten, um weiterzumachen. Jerusalem lag in direkter Nachbarschaft von Auschwitz. Von dort her gesehen, behielten die Zionisten Recht, und selbst jene, die vorher skeptisch gewesen waren, verstummten angesichts der Toten. Ein düsterer Sieg.

1967 unterstützte die Bonner Regierung den israelischen Unabhängigkeitskrieg mit schwerem Gerät, um einen „neuen Holocaust“ zu verhindern. Der Höhepunkt der Popularität Israels in Deutschland war erreicht. In den Siebzigern wandelte sich Israel unter dem rechten Ministerpräsidenten Menachem Begin von einem bedrängten Kleinstaat in eine Besatzungsmacht, Deutschland und seine Linke entdeckte die Palästinenserfrage. Seither hat es in Deutschland Tradition, den jüdischen Staat, unterschwellig oder offen, mit Hitlers Nazireich gleichzusetzen. Im Antizionismus fand man endlich Gelegenheit, seine eigenen Vorfahren und damit sich selbst zu entlasten. Von diesem Entlastungsbedürfnis rühren auch die Ressentiments her, die heute allenthalben spürbar sind.

Auch der israelische Philosoph Jeschajahu Leibowitz[2]parallelisierte bewusst den Rigorismus israelischer Staatsräson auf dem rechten Flügel mit der Ideologie der deutschen Nationalsozialisten. „Schon heute existiert […] ein ganzer Sektor der jüdischen Bevölkerung, den ich ohne Zögern als eine Kopie der deutschen Nazis bezeichnen würde. Seht euch die Kinder der jüdischen Siedler in Hebron an; von klein auf lernen sie, dass alle Araber bösartig sind und dass alle Nichtjuden unsere Gegner sind. Sie verwandeln sich zu Paranoikern, sie glauben einer Herrenrasse anzugehören, sie sind exakt wie die Hitlerjugend. Heute wiederhole ich mit Nachdruck den Ausdruck ,Judennazis!‘ “ Wie hatte es dazu kommen können? Waren nicht die Juden, Volk des Buches, Schriftgelehrte in Fragen des Gesetzes und praktizierende Ethiker, stets die sanftmütigsten aller Menschen gewesen, leidenschaftliche „Feinde der Gewalt“, wie Sartre sie sah? Sollten Juden nicht Leben bewahren, statt es zu vernichten?

Da stehen sich zwei Menschenbilder gegenüber: Talmudjude versus Muskeljude, Kafka versus Nietzsche. Und zwei Argumentationsweisen: das handliche Schnellfeuergewehr, die Uzi, versus Ironie. Die Gewaltbereitschaft des israelischen Kollektivs war dem Juden der Diaspora fremd. Dem Volk aus Priestern war aufgetragen, sein Gewissen zu kultivieren. Die Thora und noch mehr ihre unzähligen Kommentierungen haben den ewigen Studenten gelehrt, auf den Anderen zu achten, als wäre er es selbst. „Oi Gewalt“ ist in der Diaspora Ausdruck tiefsten Entsetzens, Gewalt war für den Goi. Die Kennzeichnung des Diasporajuden als klassischer Antiheld und Schlemihl hat eine lange literarische Tradition. Von hier führte der Weg durch Säkularisierung und jüdische Aufklärung zu den humanistisch gebildeten und kosmopolitisch ausgerichteten, geistreichen „Stadtneurotikern“[3], wie man sie in der zweiten Hauptstadt des Judentums, in New York, findet. Diese Menschen des kulturellen Individualismus waren, wie im Falle Philip Roths und Saul Bellows, Meister der Introspektion, von Witz und Schamgefühl geblieben.

Aber die Ironie ist die Waffe des Besiegten, und eben diese sanftmütige Kultur der „Herzensbeschneidung“ hatte nach israelischer Auffassung dazu führen können, dass sich diese Talmudjuden von den deutschen Nationalsozialisten „wie die Lämmer“ hatten zur Schlachtbank führen lassen. Den „neuen Juden“, den Sabren, der in Israel auf den Plan tritt, quälte diese Vorstellung der „erbärmlichen“ Schwäche und Wehrlosigkeit. Eine schlimmere Beleidigung als „Feigling“ gibt es in Israel nicht. Das hebräische Slangwort sabon, Feigling, heißt eigentlich Seife und bezieht sich zynisch auf die Opfer des Völkermords.

Den frisch gebackenen Israelis konnten reine Geistigkeit und Intellektualismus nicht anders denn als Realitätsflucht erscheinen. Der Sabre – Wüstenpflanze mit harter Schale und weichem Kern – wollte dagegen auf seinem eigenen Grund und Boden von seiner eigenen Hände „ehrlicher“ Arbeit leben und die Wüste in blühende Landschaften verwandeln. Dieser von Ahron David Gordon[4]eingeführte Zentraltopos einer „Mystik der bebauten Heimaterde“, ein Konglomerat von marxistischer Terminologie, utopischer Rhetorik und einer national gefärbten Agrarromantik, fand durch die Kibbuzbewegung Eingang ins israelische Selbstbewusstsein.

Auf körperliche Ertüchtigung, Zähigkeit und Durchhaltevermögen legte man deshalb in den Erziehungsanstalten des jungen Staates Israel – insbesondere in Kibbuz und Armee – den allergrößten Wert. Während der Jude der Diaspora als wehrlos galt, ohnmächtig, der in durchaus christlicher Manier nach der rechten auch noch die linke Wange hinhielt, sollte der Sabre vor allem eines sein: wehrhaft.

Die Pioniere verstanden sich als der wiedererstandene Hebräer des Makkabäer- und des Bar-Kochba-Aufstandes.[5]Das identitätsstiftende Modell des Sabren bot die erforderliche Selbstsicherheit im Auftreten, die „aufrechte Haltung“, nach der sich alle Gedemütigten sehnen. Deshalb gehört der Aufstand im Warschauer Ghetto viel mehr zu den staatsgründenden Mythen als die Vernichtungslager. In der israelischen Mythenbildung um die Schoah wurden die heroischen jüdischen Aufstandsversuche zur zentralen Erzählung, während man über den monotonen Tod der Juden in den Gaskammern peinlich berührt Schweigen bewahrte.

Jeder Bürger Israels leistet – ausdrücklich oder unausgesprochen – den Schwur: Nie wieder eine solche Apotheose der Ohnmacht! In dieser Hinsicht ist Israel eine eingeschworene Gemeinschaft. Der Zionismus der Pioniere unternahm den verzweifelten Versuch, die Jahrhunderte der Diaspora, die stets aus der Erinnerung Kraft geschöpft hatte, aus dem Gesichtsfeld zu tilgen, um endlich die Zukunft ins Visier zu nehmen. Es ist nicht unerklärlich, warum sich in diesen radikalen Neuentwurf als Jude, der zugleich auch eine Abwehrstrategie darstellte, unbewusst „antisemitische“ Elemente einschleichen konnten. Der Bauer im Negeb sollte das Bild des Wucherers Shylock[6]auslöschen, der Gottesfürchter weicht dem Mann ohne Nerven.

Der rechtsnationalistische Revisionist Vladimir „Zeev“ Jabotinsky[7]trieb diese Polarisierung ins Extrem. Für ihn mangelte es der „Sklavenseele der Diaspora an Würde und Mut, und diese Charakterschwächen, diesen mangelnden Lebens- und Durchsetzungswillen sah er in der Juden Art zu stehen, zu gehen, zu sprechen und zu denken. Jabotinsky ließ mit der ihm eigenen Mischung aus Charisma und Brutalität sämtliche antisemitischen Klischees in seine Denunziation des Diasporajuden einfließen. Er dagegen wollte ein Potentat sein, der nicht nur von Macht träumt. In seiner Schrift von 1910 verfocht er die zentrale These, dass der jüdische Staat unter allen Umständen geschützt werden müsse und Israel zu diesem heiligen Zweck ein „Wolf unter Wölfen“ zu werden habe. Man musste wählen, auf welcher Seite man fortan zu stehen wünschte, Besatzer oder Unterworfener, Herr oder Sklave.

Jabotinsky hatte den Willen zur Macht. Moral war nach seinem Bekunden ein Luxus, den Israel, umgeben von Feinden, sich nicht leisten kann. Für die alltäglichen Lebensvollzüge eines Israelis genügten deshalb bestimmte Vorstellung von Richtig und Falsch, die weniger subtil, dafür aber praktikabler sein mussten. Zögern konnte das Leben kosten. Er diskutiert und fackelt nicht lange mit den Arabern. Er ist nicht um „Dialog“ bemüht wie die Vertreter der so genannten Dialogphilosophie, Buber, Rosenzweig und Lévinas, die die Existenz als soziale Frage behandelten, weil der „Fluch“, der auf den Juden lastete, ein sozialer war. Jabotinsky verdächtigte jede Humanität, harmoniesüchtig den eigentlichen Entscheidungen in eine sentimentale Sphäre auszuweichen. Er, der neue Jude, kommt den anderen nicht demütig entgegen. Lieber kontrolliert er seine Feinde. Er ist sein eigener Herr, niemand hat mehr Macht über ihn.

Diese Sehnsucht war, auch über die Siedlerbewegung hinaus, sehr einflussreich in Israel. Der Kampf, der immer auch Existenzkampf ist, wurde zum integralen Bestandteil dieser Lebensform. Israel befreite die Juden aus ihrer Abhängigkeit von dem Wohlwollen anderer und emanzipierte sie von den Vorstellungen, die sich jene von ihnen machten. Selbst Sartre fühlte sich von diesem „authentischen“ Zug der Israelis angezogen, dass sie sich „einen Dreck darum scheren zu gefallen“. Der Zionismus verstand sich somit selbst als eine Art „Gesundheitsbewegung“, wie es Gordon 1911 zusammenfasste: „Jeder einzelne muss darauf achten, dass er den Galuthjuden in seinem Inneren in einen wahrhaft emanzipierten Juden verwandelt und eine unnatürliche, defekte und zersplitterte innere Persönlichkeit zu einem natürlichen, gesunden menschlichen Wesen umkehrt, das in Harmonie mit sich selbst lebt.“

Kurz: Der Israeli sollte meiden, was dem Juden der Galuth (Gefangenschaft) heilig war, und lieben, was dem Juden fremd gewesen war. Zu Israels Weg in die Moderne gehört die Doktrin der „Diasporanegation“ (Alain Finkielkraut). Der neue Jude, nicht als Fortsetzung, sondern als Metamorphose des alten, hatte sich unter allen Umständen anders zu verhalten, als es „jüdische Gewohnheit“ war, wenn wirklich das jüdische Schicksal verändert werden sollte, wenn man es endlich selbst in die Hand nehmen wollte.

In Israel sollten die Juden Ruhe finden, nicht mehr schlafen müssen wie die Eule, immer mit einem Auge geöffnet. Stattdessen ist heute das „Klima“ in Israel unerträglich, überspannt, an Wahnsinn grenzend. Und mit der ganzen Ironie der Geschichte geraten Juden wieder unter größten Druck, sich vor andern rechtfertigen zu müssen. Gerade an dem Ort, der ihnen endlich Sicherheit geben sollte, sind sie heute unsicherer als irgendwo sonst auf der Welt. Wieder wird die Angst virulent, die Juden könnten ein weiteres Mal zum Opfer eines Genozids werden.

Diese schreiende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit haben den Schriftsteller Philip Roth bewogen, in seiner „Operation Shylock“ das satirisch-groteske Konzept des „Diasporismus“ vorzulegen. Der Doppelgänger Roths zieht durch Israel und wirbt als „Anti-Herzl“ oder „Anti-Moses“ darum, die Juden Israels wieder zurück in alle Welt zu verfrachten. Die Bevölkerung von Warschau würde sie mit Beifall zu Hause willkommen heißen, wenn sie in ihren Waggons(!) einträfen: „Unsere Juden sind wieder da.“

Roths aberwitzige Groteske, dieses Szenario für einen Film der Marx-Brothers, war bereits bei seinem Erscheinen vor zehn Jahren schrecklich komisch. Heute hat die Realität die Fiktion nahezu eingeholt. Aber bei einer Rückkehr nach Europa wäre zu befürchten, dass es wenig Beifall gibt. Heute fliegen Steine, um die Juden für die Verbrechen an der Menschlichkeit von Seiten der Israelis zu bestrafen.

Der Zwiespalt zwischen Gewalt und Gewissen geht mitten durch Israel hindurch. Die besten jüdischen Witze hört man – immer noch – in Israel, und hier sitzen auch die härtesten Kritiker israelischer Politik, jüdische Stimmen, deren Wahrnehmung von Macht und Unterdrückung durch die eigene Erfahrung von Macht und Unterdrückung geschärft ist. Manche haben das Gefühl, in der Unterdrückung der Palästinenser ihre Geschichte verraten zu haben. Die anderen aber wollen gerade darin unmissverständlich unter Beweis gestellt sehen, dass sie aus der Geschichte gelernt haben. In dieser tragischen Konstellation wird das Selbstbild als Opfer weitergetragen, selbst da, wo es längst von der Wirklichkeit eingeholt und überholt wurde.

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