: Rückkehr in die verminte Heimat
aus Dascht-i Rubat BERNARD IMHASLY
Beinahe die einzigen Lebenszeichen in der weiten Ebene kommen von den Minenräumern. Entlang der Straße führen Mitarbeiter des „Mine Detection Committee“ Minenhunde aus Deutschland den Straßenrand entlang. Weiter im Innern schütten Bulldozer einen Erdwall auf, hinter dem sichergestellte Minen zur Explosion gebracht werden. Hier in der Schomali-Ebene arbeiten Nichregierungsorganisationen, die unter der Koordination des UNO-„Mine Action Programme for Afghanistan“ das Gelände Meter um Meter von Minen und Blindgängern säubern.
Im Dorf Dascht-i Rubat kauern Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz vor einer Mauerruine, einen Halbkreis von Kindern um sich. Sie führen ihnen Tafeln vor, auf denen in einfachen Zeichnungen verschiedene Minentypen abgebildet sind. Ein viereckiger Holzpflock wird herumgereicht, damit sich die Kinder die Farben rot und weiß einprägen können – rot für Punkte, wo Minen in der Erde stecken, weiß für gesäuberte Bereiche.
Die Kinder gehören zur Vorhut von Rückkehrern aus dem pakistanischen Exil. Vor drei Jahren waren 300 Familien geflohen, als die Taliban das Dorf Rubat ein drittes Mal eroberten und mehrere Männer wegen Kollaboration mit dem Feind erschossen.
Die Schomali-Ebene liegt im Norden von Kabul, dort wo die Hindukusch-Passwege mit jenen aus Bamijan und Herat im Westen zusammenlaufen und nach Kabul führen. Die alte Handelsroute wurde zum Albtraum, als die Sowjets mit dem Bau von Salangstraße und -tunnel am Nordende der Ebene den Hindukusch in einer geraden Linie überwanden und die einzige Ganzjahresverbindung zwischen Norden und Süden schufen. Mit dem Bau des Luftwaffenstützpunkts Bagram im breiten Talbecken nahm die strategische Bedeutung von Schomali noch zu. Nach dem Abzug der Sowjets wurde das Tal zur lebenswichtigen Verbindung für den Kriegsfürsten Ahmed Schah Massud zwischen seiner Talfestung im Pandschir und der Hauptstadt. Als Massud 1996 Kabul den Taliban überließ und sich nach Norden zurückzog, wurde die Ebene zum Schauplatz eines fünfjährigen Kriegs, bei dem die Frontlinien ständig wechselten, aber stets quer durch Dörfer, Traubenhaine und Wasserläufe des Tals verliefen.
Heute sind die Taliban verschwunden, und die Erben des im vergangenen Jahr ermordeten Massud sind alleinige Herren von Schomali, wenn man von der Luftwaffenbasis von Bagram absieht, dem Herrschaftsgebiet der 7.000 britischen und amerikanischen Truppen, die von hier aus ihre Einsätze gegen Al-Qaida- und Taliban-Widerstandsnester starten. Doch der Krieg geht nicht nur für diese Soldaten weiter. Er lebt im Tal weiter, in einer weniger spektakulären, dafür umso perfideren Form als in den Berghöhlen von Schahi Kot. Die Schomali-Ebene ist von Minen übersät, das Geschenk eines Gegners, der sichergestellt hat, dass der Krieg noch lange nach seiner Abwesenheit weitergeht. Sie gehört zu den 800 Quadratkilometern Minengelände, die Afghanistan zu einem der am stärksten minenverseuchten Länder machen. Die Stille, die sich heute über das ganze Tal ausbreitet, ist nicht nur auf das Schweigen der Kanonen zurückzuführen. Es drückt auch die Leere der Dörfer und Felder aus, die von ihren Besitzern vor drei Jahren verlassen worden waren.
Damals hatten die Taliban die Ebene ein zweites Mal erobert und sorgten dafür, dass die – hauptsächlich tadschikischen – Bauern nicht noch einmal als Sympathisanten ihres Gegners Massud aktiv wurden. Sie brannten mehrere tausend Hektar Traubenstöcke und Fruchtbäume nieder und zerstörten die Kanäle, die das Wasser oft über 30 Kilometer heranführten. Die Umgebung der Stellungen rund um die Dörfer wurde vermint. Der Großteil der Menschen floh nach Pakistan, einige nach Kabul. Wer heute durch die Schomali-Ebene fährt, sieht Felder um Felder von verdorrten Traubenstöcken und verkohlten Bäumen an sich vorbeiziehen, mittendrin die Lehmmauern zerstörter Dörfer.
Das Rote Kreuz war auf erste Rückkehrer aufmerksam geworden, wie die Minenberaterin Nathalie Preavost berichtet, als mehrere Kinder in das Regionalspital von Charikar eingeliefert wurden. Zwei von ihnen hatte ein Blindgänger getötet, als sie auf der Suche nach Altmetall waren.
Die traurigste Form der Auseinandersetzung mit Minen sind sechs orthopädische Zentren des Internationalen Roten Kreuzes, in denen Prothesen und andere Rehabilitierungshilfen hergestellt, angepasst und mit den Betroffenen eingeübt werden. Die Mehrzahl der Beschäftigten sind Behinderte, die selbst Opfer von Minen waren. Ihre Tätigkeit ist gleichzeitig eine therapeutische Hilfe für Ersteingelieferte, die mit dem Verlust von Gliedmaßen oft auch jeden Lebensmut eingebüßt haben.
Präventiv setzt das Rote Kreuz Aufklärungsteams ein, wie jenes, das an diesem Morgen in Rubat die Kinder belehrt. Die Kinder um den Trainer Baschir gehören zu einer der vier Moscheen von Rubat – afghanische Dorfviertel werden oft Moscheen zugeordnet. Alle Bewohner waren in den pakistanischen Teil Kaschmirs geflüchtet. Die ersten 25 Familien kamen erst zurück, nachdem sie einen Späher vorausgeschickt hatten, der bei seiner Rückkehr berichtete, dass etwa 20 Prozent der Felder von Minen gesäubert seien. Die Jungen, die am Minenunterricht der Rotkreuzmitarbeiter teilnehmen, haben in Pakistan keine Schule besucht. Der Mullah der Dorfviertelmoschee hat daher beschlossen, 50 Kindern jeden Morgen Unterricht zu erteilen – Koranverse, Rechnen, Schreiben und Lesen.
Bei der Suche nach dem Mullah entpuppt sich dieser als einer der Herumstehenden, ein Siebzehnjähriger namens Mir Hamsa, der in einer pakistanischen Madrasse Koranunterricht erhalten hatte. „Dort wollten sie, dass ich mich dem Dschihad anschließe“, sagt er, „doch ich zog es vor, ins Dorf zurückzukommen.“
Der Minenunterricht ist nie weit von der Praxis entfernt. Eine Reihe von Häusern von Rubat sind zerstört und mit kleinen roten Dreiecken markiert, da in ihnen Blindgänger vermutet werden. Von den Feldern sind erst einige kleine Flecken bebaut worden, doch der Bauer Mohammed Schabir gibt dem Radieschenexperiment wenig Überlebenschancen. Erzürnt ist er vor allem darüber, dass er wegen der Minen nicht an die Reste der Traubenstöcke herankommt, um die ausgetrockneten Sprösslinge als Brennholz zu schneiden. „Die Gefahr bei den Minen ist“, sagt Nathalie Preavost, „dass die Leute mit der Zeit unvorsichtig werden und von der Not getrieben immer weiter auf unkontrollierte Felder hinausgehen.“
Den Beweis dafür liefert ein stämmiger Mann, der in eine andere Unterrichtsstunde in der Moschee hineinplatzt. Schafiqullah ist soeben aus der Stadt Charikar gekommen, wo er gehört hat, dass am Morgen wieder zwei Menschen ins Spital eingeliefert wurden. Ein Knabe hat mit einem Stein auf einen Blindgänger gehauen, bei der Explosion sei sein Kopf verletzt worden; und eine Frau sei beim Wasserholen auf eine Mine getreten.
Schafiqullahs Auftreten macht sofort klar, dass er seine eigene Bedeutung kennt. Die Leute, die sich zuvor über das Regime der Mudschaheddin beklagt haben, verstummen. Es stellt sich heraus, dass er „Dorfkommandant“ ist, ein Anhänger eines Tadschikengenerals der Nordallianz, der die Kontrolle über die Schomalidörfer ausübt. Er habe alle Waffen eingesammelt, sagt er. Aber an die Regierung hat er sie noch nicht abgegeben. „Der Krieg ist noch nicht vorbei. Im Süden geht er noch weiter.“
Ob er damit die al-Qaida meint oder die Paschtunen generell, lässt er offen. Für ihn ist klar, dass die Nordallianz mit der Eroberung Kabuls auch das Recht hat, die Regierung zu stellen. Die Frage, ob er sich in die Armee eingliedern lasse, beantwortet er ausweichend. „Ich habe bereits eine Arbeit – ich gehöre zum Wachpersonal für die Außenbezirke von Bagram. Die Amerikaner zahlen mir einen Sold.“ Dies hindert Schafiqullah jedoch nicht, Distanz zum Verbündeten zu zeigen. „Sie müssen nach sechs Monaten abziehen, wie es das Bonner Abkommen vorschreibt. Wenn sie es nicht tun, werden wir die Waffen gegen sie aufnehmen.“ Die Worte werden von den herumstehenden Männern mit Schweigen quittiert, während sich die Rotkreuzinstruktoren viel sagende Blicke zuwerfen. Erst später, als Schafiqullah weg ist, sagt der Bauer Mohammed Schabir seine Meinung: „Die Amerikaner sollen ruhig noch drei bis vier Jahre in Bagram bleiben. Schließlich haben sie den Landesfeind besiegt. Sie sagen uns nicht: ‚Geht nicht in die Moschee! Hört auf zu beten!‘ Und sie verminen nicht unser Land.“
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