: „Nur eine Mitgliederpostille reicht nicht mehr“
Der Politikwissenschaftler Josef Schmid rät den Gewerkschaften: Mehr Service für Arbeitnehmer – etwa durch Einkaufen in Rabattgemeinschaften und billigen Internetzugang
taz: Herr Schmid, die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften sinken …
Josef Schmid: … aber nicht ganz so dramatisch, wie immer behauptet wird. Die Gewerkschaften haben zwar in zehn Jahren etwa drei Millionen Mitglieder verloren – aber die meisten im Osten. Und das war ein ganz normaler Anpassungsprozess. Jetzt sind dort auch nur noch 30 Prozent der Arbeitnehmer organisiert – wie im Westen.
Und im Westen ist die Welt der Gewerkschaften noch in Ordnung?
Wenn man nur die Köpfe zählt, dann ja. Wenn man allerdings weiß, dass es bei der IG Bergbau bald mehr Rentner als Aktive gibt, dann kann man sich vorstellen, dass einige Gewerkschaften fast aussterben. Zudem ballen sich die Mitglieder in den schrumpfenden Branchen, zum Beispiel in der Stahlindustrie. In den neuen Dienstleistungsberufen sind sie dagegen kaum zu finden.
Der Gewerkschaftskongress sucht ja nach seiner eigenen Zukunft. Was würden Sie empfehlen?
Beispiel Großbritannien: Dort waren die Gewerkschaften am Boden, jetzt haben sie sich erholt – durch professionelle Mitgliederbetreuung.
Was soll das sein?
Bisher galt es ja schon als ein Bonus, wenn die Mitglieder die Gewerkschaftspostille bekommen. Aber warum sollte die noch interessieren in der Mediengesellschaft? Viel besser wäre es, wenn man etwa Rabattgemeinschaften gründet, um gemeinsam günstiger einzukaufen.
Das gab’s doch schon – mit der „Produktionsgenossenschaft“. Aber diese Supermärkte sind eingegangen.
Weil sie ein zu beschränktes Angebot hatten und mit der Vielfalt der Bedürfnisse nicht umgehen konnten. Aber ein simples Beispiel, wie es funktionieren könnte: Alle Mitglieder bekommen einen verbilligten Internetanschluss. Da hat man den Mengenvorteil, aber jeder kann ihn individuell nutzen.
Wie reagieren denn die Gewerkschaften auf diese Ideen?
Sie sind umstritten. Nicht jeder kann sich mit der Idee eines „ADAC des Arbeitnehmers“ anfreunden.
Weitere Vorschläge?
Die Gewerkschaften brauchen ebenfalls ein kluges Programm, das höchstens halb so dick ist. Man benötigt keine 50 Seiten, um Kernbotschaften zu transportieren.
Welche?
Die Gewerkschaften müssen klar machen, dass eine Gesellschaft nicht von selbst zusammenhält. Dass der Markt Schieflagen produziert, die korrigiert werden müssen. Und dass die Mitbestimmung von Arbeitnehmern ökonomisch effizient ist. Kurz: Dass ihre Ziele nicht altmodisch sind.
Warum wirken sie dann leicht gestrig?
Es stimmt, dass die Gewerkschaften die ideologische Debatte verloren haben. Aber deswegen hat der Neoliberalismus nicht automatisch Recht. Zum Beispiel wird ja Dänemark immer als Musterland der Deregulierung zitiert. Nur der zweite Teil der Botschaft wird verschwiegen – dass dort auch die soziale Absicherung sehr hoch ist. Hier in Deutschland wollen wir aber beides gleichzeitig: Flexibilisierung und weniger Sozialleistungen.
Noch mal: Warum dringen die Gewerkschaften nicht durch mit ihren Botschaften?
Sie kommunizieren zu wenig. Sie diskutieren ja sogar kaum noch mit ihren Mitgliedern – von politischer Bildung ganz zu schweigen.
Viele sehen auch eine Legitimationskrise: Die Gewerkschaften würden sich nur um die Beschäftigten kümmern – aber nicht um die Arbeitslosen.
Das ist weitgehend in Ordnung so. Die Gewerkschaften sind eine Interessensvertretung für die Arbeitnehmer. Sie sind nicht nur und allein für die Solidarität aller mit allen zuständig. Sie sind auch eine normale Lobby.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN
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