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Den Todestrieb durchqueren

Freud, die Todesstrafe, die Globalisierung und die USA: Derridas Versuch, Grausamkeit nach Art der Psychoanalyse und damit die Psychoanalyse nach Art der Politik zu denken – die Rede „Seelenstände der Psychoanalyse“

Der Todestrieb sei der triebhafteste der Triebe, schrieb Freud – kein Befund, der optimistisch stimmt. Auch Jacques Derrida konstatiert in seiner nun auf Deutsch vorliegenden Rede an die Generalstände der Psychoanalyse im Juli 2000 dessen irreduzible Existenz. Wie können unter dieser Prämisse Kriege, Folterungen, Verfolgungen eingedämmt werden, welche Rolle spielt dabei die Grausamkeit des Staates, der im Falle des Krieges und der Todesstrafe als absoluter Souverän über das Leben seiner Bürger verfügt? Obwohl die Grausamkeit ohne Gegenteil ist, hat sie doch einen Gegenspieler: die Lebenstriebe. Als Freud 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ den Todestrieb postuliert, schafft er mit Eros und Thanatos seine „Mythologie“ der Triebe.

Der Todestrieb gehört seither zu den umstrittensten Begriffen der Psychoanalyse. Derrida bezeichnet die Reflexion über die Grausamkeit rundheraus als das ihr „Eigenste“. Sein „Salut“ als (heilsamer) Gruß appelliert an die Generalstände, sich gegen die eigenen Widerstände diesem Eigensten zuzuwenden und so sich selbst politisch zu denken.

Die Begriffe, zeigt Derrida, sind vorhanden: Grausamkeit, Herrschaft und Widerstand sind psychischer wie politischer Natur. Es käme nun darauf an, sie, nun ja, zu „durchqueren“. Mit Freud konstatiert Derrida, dass die Psychoanalyse den Todestrieb und seine Abkömmlinge nicht per se verurteilen könne: Das Leben selbst ist unauflöslich den aggressiven Trieben verbunden. „Heißt das, dass es keinen Bezug zwischen Psychoanalyse, Recht und Politik gibt? Nein, es gibt eine indirekte und diskontinuierliche Konsequenz, es muss sie geben.“ Die grausamen Triebe sind nur – aber eben auch – zu bezähmen, umzuleiten und in ein System differenzieller Zwischenglieder und Bezugsgrößen einzubinden. Derridas Programm auf Freuds Spuren lautet: Différence als Desillusionierung.

Denn das jüngst abgelaufene Katastrophenjahrhundert zeugt nicht nur von unerhörter Grausamkeit, es hat zugleich auch neue juristische Möglichkeiten – Menschenrechtskonventionen, Verurteilung des Völkermordes, internationale Strafinstanzen – ins Werk gesetzt. Transnationalen Vereinbarungen sollen die Rechte des einzelnen souveränen Staates einschränken – und treffen auf die bekannten Widerstände. Die regierenden Klassen folgen ihrem eigenem Machtbedürfnis, das sie nur unter Druck aufgeben. Für Derrida zeigt vor allem das „ungeheure und drängende Problem der Todesstrafe“ das Doppelmotiv von Souveränität und Grausamkeit: Der Staat monopolisiere die Grausamkeit, statt sie zu bekämpfen.

Derrida, dem man vorschnelle Verständlichkeit im Allgemeinen ja nicht vorwerfen kann, wird in dieser Rede virtuell recht deutlich. „Freud ist in Amerika gestorben“, zitiert er Elisabeth Roudinesco. Nach dem 11. September gelesen, gewinnt die Rede hier eine fast bestürzende Aktualität: Die USA repräsentiere eine „Globalisierung, in der die amerikanische Hegemonie evident und mehr und mehr kritisch, ich meine, verletzlich zugleich wird“. Zugleich bekundet er seine Abscheu gegenüber der Todesstrafe und seine Kritik am „Prinzip nationalstaatlicher Souveränität, das die Vereinigten Staaten auf unnachgiebige Weise schützen, wenn es um ihre eigene geht, und das sie begrenzen, wenn es um andere, nicht so mächtige Länder geht“. Würde hier nicht der Meister der Dekonstruktion aus eleganten Suhrkamp-Buchdeckeln sprechen – solche Sätze würden heute unter das Verdikt des Antiamerikanismus fallen.

Dass Derrida Todesstrafe und hegemoniales Machtstreben nicht zufällig mit dem „Schicksal der Freud’schen Psychoanalyse, die mehr und mehr verfemt wird in den USA“, verbindet, zeigt das Gegenbild: Er verweist darauf, dass „sämtliche Staaten des alten Europas, der Wiege der Psychoanalyse, zugleich die Todesstrafe abgeschafft und einen zwiespältigen Prozess eingeleitet haben, der zwar der nationalstaatlichen Souveränität kein Ende bereitet, diese aber einer Krise oder einer Infragestellung aussetzt“.

So wird über diese en passant vorgenommene Einschreibung der Psychoanalyse in die politische Geschichte Derridas eigene Forderung, über den Wandel in der Grausamkeit more psychoanalytico nachzudenken, zum politischen Akt. Denn dass die Psychoanalyse ihre Widerstände „gegen die Welt“ überwinden und sich unter den Bedingungen der Globalisierung neu denken muss, steht für ihn außer Frage. Die Einberufung der Generalstände sei in Analogie zur Französischen Revolution als Krisenphänomen verstehbar: Wie ist es heute um die États d’âme – die Seelenstände der Psychoanalyse – bestellt? Wer repräsentiert unter globalisierten Verhältnissen den dritten Stand, steht ein Königsmord, steht eine Revolution der Psychoanalyse bevor?

Revolutionen sind im Wortsinn nicht nur Umsturz, sondern ebenso Wiederholungen. Auch die ausstehende Revolution der Psychoanalyse hat also schon stattgefunden, und es erstaunt nicht, dass Derrida in seiner revolutionären Geste Freud in vielem folgt. Freuds ökonomisch gedachter „Diktatur der Vernunft“ über die Triebe will Derrida aber ein Jenseits des Jenseits entgegensetzen: Das „unbedingte Kommen des Anderen“, das er abschließend als „Der Fremde“ sprechend fast eschatologisch beschwört, ist seine Figur revolutionärer Überschreitung. Sie ist schönen, vielleicht unökomischen Gesten verbunden: der Gabe, der Gastfreundschaft, dem Verzeihen.

Die Psychoanalyse ist zweifellos, wie Derrida sagt, eine Wissenschaft für sich. Bleibt sie indes nur für sich, gibt sie ihren „Widerstand gegen die Welt“ nicht auf und wendet sich gerade darin dem ihr Eigensten – der Grausamkeit – zu, wird sie vielleicht von ihr eingeholt: „Die Psychoanalyse ist unauslöschlich, ihre Revolution unumkehrbar – und dennoch ist sie als Zivilisation sterblich“. ELKE BRUENS

Jacques Derrida: „Seelenstände der Psychoanalyse“. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002. 104 Seiten, 14,90 €

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