: Im Gleichschritt
Das Turboabi lässt einige auf der Strecke und den anderen mehr Zeit zum Ausprobieren
von ANNIKA SEPEUR und MERLE ZADEH
In Reih und Glied marschieren sie – links zwo, drei, vier, rechts, zwo, drei, vier – Pflichtbewusstsein, Disziplin und Leistungsbereitschaft sind ihre höchsten Güter. Nicht nach links und rechts schauend, den Blick immer geradeaus auf das Ziel gerichtet, warten sie auf den nächsten Befehl...
So könnte es schon bald in den Hamburger Schulen aussehen, ginge es nach den Vorstellungen des Ex-Konteradmirals Rudolf Lange (FDP), unserem Schulsenator. Denn für ihn ist es mit der Bildungspolitik wie beim Militär. Der Koalitionsvertrag von CDU-FDP und Schill hat sich die „Förderung der Leistungsstarken und Leistungswilligen“ auf die Fahnen geschrieben. Und so ist das Abitur nach 12 Jahren eine schnell beschlossene Sache: Für alle, die zum Schuljahresbeginn 2002/ 2003 in die fünfte Klasse eingeschult werden, wird die Schulzeit um ein Jahr verkürzt. Das bedeutet für die neuen Fünftklässler mindestens drei mal sieben Stunden pro Woche und Verdichtung des Unterrichtsstoffes im weiteren Verlauf der Unter- und Mittelstufe.
Viele Eltern sehen darin ein Problem und machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. So wie Renate Kalckhoff, Mutter von drei Kindern (erste, dritte und sechste Klasse): „Die Kinder haben noch weniger Zeit, den Stoff zu lernen und noch weniger Zeit, um Sport zu machen und sich zu bewegen.“ Außerdem befürchtet sie, dass der Druck auf die Kinder noch größer werde, dass leistungsschwächere Schüler der Selektion nicht standhalten könnten und so am Ende auf den Gymnasien nur noch Eliten zu finden wären. „Was andere meinen, einem zumuten zu können, ist was anderes, als man sich selbst zumutet“, sagt sie.
Aber auch viele Schüler bewerten die Verkürzung der Schulzeit negativ. Louvina Lawson, 9. Klasse, sieht es „als Nachteil, dass man mehr Stunden hat und den Stoff schneller lernen muss“. Und Achtklässler Benjamin Warncke fürchtet, dass „mir dann sozusagen ein Jahr fehlen würde; das wäre für mich ein Hinderungsgrund, ins Ausland zu gehen.“
Aber es gibt auch viele Schüler, die Vorteile darin sehen, früher mit der Schule fertig zu sein und so vielleicht bessere Chancen auf dem europäischen Arbeitsmarkt zu haben. „Unser System wird mehr an Europa angeglichen. Das finde ich gut, denn so hat niemand irgendwelche Vor- oder Nachteile. So wie mit dem Euro, halt nur in der Bildung“, sagt Svenja. Und natürlich hätte es seinen Reiz, ein Jahr lang mehr Zeit zu haben, Dinge auszuprobieren, Erfahrungen im Ausland zu sammeln – beispielsweise in Form von Praktika, um sich beruflich zu orientieren. Ob das eingesparte Jahr im Wettbewerb mit anderen europäischen Schulabsolventen aber wirklich ein solches Gewicht hat, darf in Frage gestellt werden.
Die Art und Weise jedoch, in der der Senat überstürzte Entscheidungen trifft, ohne ein strukturiertes Konzept zu haben, kann nur in die Sackgasse führen. Die gerade entwickelten Hamburger Bildungspläne, die an 13 Schuljahren orientiert sind, werden hinfällig, und es sind noch keine neuen Bildungspläne erarbeitet worden. Was sollen Fünftklässler ab diesem Sommer lernen? Wieviel Unterrichtszeit am Stück kann man ihnen zumuten? Wie soll ein Mittagstisch in den Schulen realisiert werden, wenn entsprechende Ausstattung und das Personal fehlen? Wer soll die Aufsicht übernehmen? Eine Entscheidung zur Schulzeitverkürzung dürfte erst nach der Beantwortung all dieser Fragen gefällt werden, da sie im Grunde eine völlige Umstrukturierung des heutigen Schulalltags erfordert.
Außerdem gehen dem Senator die Rekruten für sein Vorhaben aus. Denn es gibt jetzt schon „viel zu wenig Lehrer und die anderen sind gestresst und überfordert“, meint Svenja Sepeur, Schülerin der 9. Klasse des Gymnasiums Osterbek. Auch offen bleibt die Frage, wie man verhindern will, dass bei Komprimierung des Lernstoffes, vor allem in den jüngeren Klassen, die leistungsschwächeren Schüler auf der Strecke bleiben.
Dazu hat Innensenator Ronald Schill etwas parat: „Leistungsbereitschaft und Elite müssen gefördert werden. Sozialpädagogen hat die Wirtschaft genug“, erklärte er bei einer Podiumsdiskussion vor der Wahl. In diesem Sinne wird mit der Holzhammermethode eine kurzsichtige Politik betrieben. „Delegieren und Herrschen“ ist anscheinend die Devise, denn die konkrete Planung müssen sich Lehrer und Behördenmitarbeiter schon selbst überlegen, meint Senator Lange. Schließlich bekämen auch Soldaten einen Auftrag nur in Form eines präzisen Ziels. Wie sie diesen Auftrag dann durchführten, bliebe ihnen selbst überlassen.
Doch dass dieses Struktur-Vakuum nur Chaos nach sich zieht, erfahren wir in unseren Schulen aus nächster Nähe. In der Behörde weiß zuweilen der eine nicht, was der andere macht. Da wurde zum Beispiel von der Behörde an ein Gymnasium der Vorschlag zur Umstrukturierung in eine Ganztagsschule herangetragen; mit einer Entscheidungsfrist von nur wenigen Tagen. Daraufhin fanden hektisch Konferenzen und Diskussionen statt, nur um beim nächsten Kontakt mit der Behörde belehrt zu werden, dass die Umformung dieses Gymnasiums in eine Ganztagsschule nie zur Debatte stand.
Angesichts dieser politischen Situation in Hamburg gerät man als junger Mensch leicht in Versuchung, sich wie resignierte Rentner im Sessel zurückzulehnen, keine Fragen mehr zu stellen und seine Enkelkinder nach Schweden zu schicken. Wenn man aber doch fragt? Bei einer Schülerversammlung antwortete Lange auf die Fragen der Schüler, dass er auch noch nicht genau wisse, wie das alles funktionieren werde. Na, da sind wir aber beruhigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen