: Angewandte Komfortlehre
Der richtig bequeme Bürostuhl macht denkfaul, sagen die Erfinder eines neuen Arbeitshockers. Das Bewegungstier Mensch muss aus eigener Kraft sitzen und für einen wachen Geist ausreichend kippeln
von MARGRET STEFFEN
Es ist angenehm, entspannend, macht glücklich. Und es war schon immer sanktioniert: kippeln auf einem Stuhl. Schulordnungen verbieten, Lehrer mahnen, Eltern nerven:
„Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?“
Der Zappelphilipp aus dem Kinderbuch von 1845 würde heute nicht mehr unter der Tischdecke landen – der Kippelstuhl ist erfunden worden. Er hat zwei leicht verkürzte Beine und steht um 90 Grad versetzt. Der Zappler kann so, ein Stuhlbein zwischen den Füßen, leicht vor- und zurückwippen. Studenten der Universität der Künste (UdK) in Berlin bauten das Sitzmöbel, auf dem sich der Kippeldrang problemlos ausleben lässt.
„Ich kipple leidenschaftlich und habe einfach auf meine Bedürfnisse beim Sitzen geachtet“, sagt Erfinderin Marion Kielhorn vom Fachbereich Gestaltung. Zuerst bastelte sie etwas aus Besenstielen und Brettern, „um zu sehen, ob es sich gut anfühlt“. Heraus kam der grazile Hocker mit Hinkebein und weichem Polster.
Weltweites Patent
„Es ist so einfach wie genial“, so Arbeitswissenschaftlerin Barbara Tietze. Die Professorin betreut das Projekt an der Lehrwerkstatt für Ergonomie oder „für angewandte Komfortwissenschaft“, wie Tietze sagt. „Die Studenten konnten das jetzt weltweit patentieren lassen. Es ist unglaublich, dass da noch nie jemand darauf gekommen ist.“
Denn dass das Hocken am Arbeitsplatz dynamisch sein soll, ist der Sitzgesellschaft inzwischen bekannt: Mit jeder Menge Hebelchen, Schrauben und Wippvorrichtungen suchen Stuhlhersteller das jahrelange Sitzen variabel und entlastend zu machen.
Das Problem ist, dass Menschen nicht zum Stillsitzen geschaffen sind und es auch nie sein werden. Zu „schädlichster Passivität“ sei der arbeitende Mensch verurteilt, sagt Tietze, weil er im Büro vor allem bequem und schwerelos arbeitet. Er wippt zwar im High-Tech-Sessel, fühlt aber sein eigenes Gewicht nicht. Und der berühmte Sitzball demonstriere eher Fliehkräfte – indem er unter dem Hinterteil wegrutscht.
„Die Erfahrung von Balance und Körperspannung ist fundamental“, sagt die Professorin. „Wir arbeiten nur ganzheitlich, wenn wir unsere Schwerkraft wahrnehmen, uns mit kleiner Anstrengung immer wieder neu aufrecht halten.“ Deshalb kippeln Kinder auch so gern – sie loten die Schwerkraft aus, bis sie dann durch DIN-genormte Schulstühlen zurück auf den Boden müssen. Das gewagte Balancieren ums Gleichgewicht sorge für „zentrale Aktiviertheit des Gehirns“, erklärt die Arbeitswissenschaftlerin. Von wegen also: „Sitz anständig!“ – nichts ist unnatürlicher als das mühsam anerzogene, ordentliche Sitzen.
Doch auch im Büro ist es mit dem Kippeln vorbei, seit in den 80ern der genormte Bürostuhl mit fünf Rollen eingeführt wurde. Die Menschen suchen sich nun zu helfen, indem sie den Fuß etwa um die Stuhlsäule herumschlingen: Zug und Gegendruck können, so Tietze, die Spannung im Oberkörper etwas mildern.
Wer aber nicht kippeln darf, verliert laut Tietze seinen „kleinen Bewegungsalltag“ – gemeint sind triviale Bewegungen ohne Nutzen, die für Wohlbefinden sorgen. Heute sind sie wegrationalisiert – wie bei der Tippse, die nur noch die Finger über der Tastatur krümmt. Auch Wippvorrichtungen helfen wenig, mit ihnen schwankt man nur schwerelos um sich selbst, der Bezugspunkt zum Raum fehlt. „Diese Inaktivität und Begrenztheit verengt den Horizont“, sagt Tietze.
Absolventin Marion Kielhorn hat die Stuhlidee nun weiterentwickelt: verschiedene Größen für Erwachsene, kleine Hocker für Kinder – in Känguruh- und Hühnerform. In ihrer frisch abgeschlossenen Diplomarbeit „Schulgalopp“ prüft sie, wie der Kippelstuhl zum allgemeinen Schulmöbel werden könnte. Dazu muss er etwa stapelbar sein, bruchsicher und für jedes Kind in der richtigen Größe. „Es ist ein Irrglaube, dass Konzentration still sitzen bedeutet“, sagt sie. „Die Kinder werden ja auch nicht ständig kippeln wie ein Uhrwerk“ – nach einer Eingewöhnung kann der Stuhl dann den Bewegungsdrang auffangen, Bauchlandungen ausgeschlossen. „Die Lehrer sind unglaublich interessiert“, berichtet Barbara Tietze. 16 Anmeldungen für ganze Klassensätze des Hockers würden vorliegen, in einigen Schulen werde schon getestet. Das UdK-Projekt soll jetzt in Großproduktion gehen.
Begeisterte Zöllner
„Wir haben schon einige Begleituntersuchungen“, sagt Tietze. „Die Leute gewöhnen sich schnell an die kleinen Hocker, schleppen sie überall hin mit, obwohl das gar nicht so bequem ist.“ Die Testexemplare dafür stammen aus einer Holzwerkstatt in Polen. Die Teile wurden dort computergesteuert ausgefräst und dann verarbeitet – die Beine in Birkenholz, die Sitzkissen aus atmungsaktivem Latex.
Als Barbara Tietze die erste Ladung im Bus nach Deutschland holte, staunten die polnischen Zöllner vor Frankfurt/Oder gewaltig: „Sie ließen sich das erklären und kauften uns sofort einen ab“, berichtet die Professorin. Damit nicht genug: Ein paar Meter weiter wechselte noch ein zweiter Kippelstuhl den Besitzer. Der begeisterte deutsche Zollbeamte wollte ihn für seinen Sohn – ein, wie er sagte, „totaler Zappelphilipp“.
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