An der Grenze herrscht dauernder Kleinkrieg

60.000 Menschen starben seit 1989 im Kaschmir-Konflikt, viele davon Zivilisten, deren Dörfer über die Grenze hinweg beschossen werden

HAJEERA ap/taz ■ Lange fühlten sich die Bewohner von Hajeera, einem pakistanischen Ort im Distrikt Rawalakot, der nur zehn Kilometer von der Grenze zu Indien entfernt liegt, relativ sicher. Und das trotz der täglich wachsenden Kriegsgefahr und des Risikos eines möglichen Atomkrieges zwischen Indien und Pakistan. Mit der trügerischen Sicherheit ist seit vergangenem Mittwoch Schluss. Da wurde der Ort von indischer Seite mit Granaten beschossen. Die traurige Bilanz: sieben Tote, davon vier Insassen eines Jeeps. Die Reste des ausgebrannten Wracks liegen immer noch an der Zufahrtsstraße nach Hajeera.

Der Fahrer des Wagens, Nur Mohammed, verbrannte, genauso wie sein Sohn, der neben ihm saß. Mohammeds Witwe, Dil Jan, hat das Geschehen noch gar nicht richtig begriffen und steht noch unter Schock. Verlassen will sie den Ort nicht, sagt sie, wo solle sie auch hingehen mit ihren anderen Kindern. „Was geschehen ist, ist geschehen“, sagt sie gegenüber einer Reporterin der BBC. „Natürlich habe ich Angst, aber Sorgen mache ich mir wegen der Töchter ohnehin immer.“

Auch Mohammed Sardar ist unter den Opfern. Seine Mutter ist fassungslos. „Mein Sohn war doch nur ein Arbeiter“, sagt sie hilflos, „Ich weiß nicht, warum sie ihn getötet haben.“ Sardars Frau sitzt weinend vor ihrem Häuschen aus Lehm, umringt von Nachbarn und Freunden, die sie zu trösten versuchen. Doch trotz aller Trauer und Bestürzung scheint der Kampfgeist ungebrochen. „Sollte Indien uns angreifen, werden wir uns nicht ergeben“, sagt Sardars Vater. „Ich bin bereit, auch meine beiden anderen Söhne zu opfern.“ Der gleichen Meinung ist KK Awan. „Wir wollen den Konflikt mit Indien friedlich beilegen. Wenn sie jedoch einen Krieg beginnen, werden wir bis zum Letzten kämpfen.“

Das Ereignis bescherte dem Ort einen Besuch von Sardar Mohammed Anwar Khan, Präsident des pakistanischen Teils von Kaschmir. „Wir haben die Möglichkeit, Indien eine unvergessliche Lektion zu erteilen, aber wir hoffen, dass die Vernunft die Oberhand behält und Indien sich auf Gespräche einlässt“, verkündet er.

Die Behauptung, im pakistanischen Teil Kaschmirs kämpften Rebellen, die die Grenze überquert hätten, sei schlicht und einfach unwahr. „Hier sind überhaupt keine Rebellen, sondern nur Zivilbevölkerung. Gehen Sie und gucken Sie selbst“, sagt er und fordert den Einsatz internationaler Beobachter in Kaschmir, um die Lage zu überwachen und zu entschärfen.

Auch auf der indischen Seite geht die Angst um. 3.000 Bewohner des Dorfes Dras – in einer Region, die vor drei Jahren nach dem Eindringen pakistanischer Söldner von schweren Kämpfen erschüttert wurde – haben mittlerweile ihre Häuser verlassen. Deren Wände sind mit Einschusslöchern übersät, überall liegen Granatsplitter herum. Der Inder Ghulam Nabi hat sich vorsichtshalber erst einmal in einen Bunker geflüchtet. „Es regnet seit zwei Tagen Feuer vom Himmel. Meine Kinder haben die ganze Nacht geschrien“, berichtet er.

Und der 52-jährige Jama Dedi ist am Ende seiner Kräfte. „Wir müssen aus unseren Häusern fliehen, unsere Felder und Tiere zurücklassen. Wir sind müde. Wir haben endlich genug vom Krieg.“ Mit diesem Gefühl steht Dedi nicht allein da. Seit 1989 sind im Konflikt um Kaschmir, um das Indien und Pakistan in der Vergangenheit bereits zwei Kriege geführt haben, rund 60.000 Menschen ums Leben gekommen. Die sieben Opfer von Hajeera dürften in diesem Konflikt auf jeden Fall nicht die letzten gewesen sein. bo