piwik no script img

Schatz-Erforschung

Justizbehörde sichert Forschungsprojekt über NS-Strafverfahren vorerst ab. Die dunkelste Seite der Justiz-Vergangenheit soll aufgearbeitet werden

von MAGDA SCHNEIDER

Gunther Schmitz sitzt in einem kleinen Raum im 4. Stock des Strafjustizgebäudes und wälzt Akten. Nicht irgendwelche, sondern einen „wissenschaftlichen Schatz“. 97.000 Strafakten aus der Zeit des Nationalsozialismus hat er schon gesichtet, ausgewertet und nach wissenschaftlichen Kriterien systematisiert. Nun steht der Oberstudienrat kurz vor der Pension. Doch CDU-Justizsenator Roger Kusch möchte ihn nicht gehen lassen und schloss gestern mit ihm einen Werksvertrag für ungefähr zwei Jahre ab, damit Schmitz die letzten 37.000 Strafverfahren noch auswerten kann.

„Die Justiz muss sich mit der dunkelsten Seite ihrer Verganheit beschäftigen, auch in Zeiten, wenn keine üppigen Mittel zur Verfügung stehen“, sagt Kusch, „das schulden wir den Opfern.“ Denn im Gegensatz zu anderen Forschungsprojekten, die sich mit den politischen Urteilen der Sondergerichte beschäftigten, besitzt Hamburg einen einzigartigen Aktenbestand von normalen Landgerichts- und Amtsgerichts-Strafverfahren aus der NS-Herrschaft, die einen Vergleich zwischen den Epochen der Justiz zulassen. Derartige Akten über Bagatellverfahren sind von anderen Amtsgerichten um 1945 vernichtet worden.

„Es ist frappierend, wie sich in der Vorgehensweise Kontinuität zeigt und die Art und Weise wie argumentiert wurde, sich ähnelt“, stellt Kusch gar nicht überrascht fest. „Manch Urteil hätte vor zehn Jahren gefällt worden sein können.“ Daher steckt die Brisanz im Detailstudium: Manch augenscheinlich unpolitisches Urteil zeige laut Kusch die Erbarmungslosigkeit der nationalsozialistischen Justiz. So sei das „Nörgeln“ über die Verhältnisse oder Regime zwar offiziell nur als Tatbestand der „Ruhestörung“ angeklagt worden, doch anders als in der Weimarer Republik fast selbstmurmelnd von der Justiz nach der neuen Diktion als „Heimtücke“ abgeurteilt worden. Kusch: „Die Rolle der Justiz im Dritten Reich lehrt uns, wie sich hinter der Fassade des Rechts Willkür, Ungerechtigkeit und Menschenverachtung entfalten können.“

Schmitz Arbeit ist in all den Jahren allerdings „nicht störungsfrei“ verlaufen, berichtet er. Das Projekt war 1986 vom damaligen SPD-Justizsenator Wolfgang Curilla ins Leben gerufen worden. Da der Historiker Schmitz offiziell Lehrer ist, wurde er auf zwei Jahre befristet ausgeliehen. Und da es früher noch einen „Lehrerbedarf“ gab, war jede Verlängerung des Projektes mit Krach zwischen Justizbehörde und der Schulsenatorin verbunden. Und selbst heute möchte Kusch die Arbeit Schmitz‘ nicht missen. „Die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit hilft der Justiz in ihrem täglichen Bemühen, richtige und gerechte Urteile zu fällen“ beschwört Kusch. Denn Richterschaft richte sich schnell nach den politischen Verhältnissen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen