: Nach dem Spiegelstadium
Fotografie, Film, Video und DVD: Alle Kunst auf der documenta 11 basiert auf dem Archiv und vor allem der Aufzeichnung. Errettung der äußeren Welt oder Wissensproduktion mit Hilfe von Überwachungstechnik? Bilder einer Welt im Kamerastadium
von BRIGITTE WERNEBURG
David Small ist Gründer und Leiter von Small Design, einer Firma, die unter anderem für die Asia Society, das Museum of Modern Art oder IBM netzwerkgestützte Kommunikationsplattformen gestaltet. Er arbeitet für eine anspruchsvolle Klientel der Informations- und Wissensgesellschaft. David Small ist kein Künstler. Genau aus diesem Grund passt er gut auf die Plattform 5, welche die documenta 11 im kuratorischen Empire Okwui Enwezors darstellt. Denn auch in Kassel soll fortgeführt werden, was auf den Plattformen 1 bis 4 schon geschah, nämlich die Welt der Politik, der sozialen Fragen und der globalisierten Ökonomie in die Welt der Kunst einzuschleusen. Tatsächlich ist Smalls documenta-Arbeit im Erdgeschoss des Fridericianums eine kleine Wundermaschine. Die „Illuminierte Handschrift“ wird ihrem anmaßenden Titel aufs Schönste gerecht, denn das elektronische Buch, das er gebaut hat, schaut trotz seiner rein typografischen Seiten wenigstens so zauberhaft aus wie die Illuminierten Handschriften und Bücher des Mittelalters.
Es steckt ein Stück Verheißung auf die Zukunft in den chipgeladenen Papierseiten, auf denen sich der immer lesbare, aufprojizierte Text wie ein Zylinder rollen oder als Möbiusschleife dahertanzen kann, um am Ende der Seite zu einem Buchstabenhaufen zusammenzufallen. Die documenta-Teilnahme Smalls ist ein schlagendes Beispiel für die erklärte Absicht Okwui Enwezors, dass Ziel seines Kuratierens die Produktion von Wissen sei. Freilich schaut die Produktion von Wissen durch Kunst nicht immer so reizvoll aus wie hier, wo Wissen effektvoll provozierte Imagination bleibt.
Tatsächlich gilt für die documenta 11, dass ein Bild, das als Schautafel, als Statistik, Modell oder Gebrauchsanleitung daherkommt, allemal dem Bild vorzuziehen ist, das nur Bild ist. Das Gleiche ist für das Bild richtig, das eine Erzählung transportiert. Es geht um das Bild, das sich nützlich macht, und vielleicht erscheint die Anlage der documenta deshalb so kleinteilig und wissbegierig; zeigt sich die Schau eher reichhaltig als elegant. Paradigmatisch dafür lässt sich Joëlle Tuerlinckx' „Vorschlag für einen Raum im Fridericianum“ lesen, der aus einem ganzen Arsenal von Beamern, Monitoren, Bildwerfern und Diaprojektoren besteht, die mal als Batterien gestapelt, mal als vereinzelte Bildmaschinen mit kleinen Umbauten als Leinwand versehen sind.
Wer die Anordnung anfangs nicht ohne Weiteres versteht, dem geht spätestens im Gewirr der Ausstellungsboxen in der Binding-Brauerei ein Licht auf: Tuerlinckx' Vorschlag muss das Modell für die Ausstellungsorganisation der documenta sein. Ganz falsch liegt man mit dieser Idee nicht. Wenn die belgische Künstlerin mit ihrer Installation auf eine poetische Vermessung des Raums zielt, die die räumlich gegebenen Bedingungen von Wahrnehmung thematisiert und den Wunsch nach der Zusammenführung, dem Dialog all der vereinzelten Bildfragmente und Informationsspuren, dann erweist sich die documenta selbst als ebendiese Apparatur.
Interessanterweise entdeckt man in ihr öfter die Geste als das Werk. Pierre Huyghes fünfminütiges Video zu Grandmaster Flash – die relativ einfache Reinszenierung von dessen erstem Auftritt mit zwei Plattenspielern, mit denen er Remix und Scratching entwickelte – scheint beispielsweise gegenüber seinen älteren, komplexeren Umarbeitungen des Hollywoodkinos bescheiden. Aber als ein Hallo von der Plattform 5 an die medientechnisch so ingeniösen 80er-Jahre in der Bronx hat dieses kurze „Kino der Unterhaltung und Belehrung“, wie man mit Brecht die leicht befremdliche Wiederaufführung eines historischen Moments nennen möchte, seinen definitiven Charme. Dann wieder ist es die Fülle des Materials, das zur Konzentration auf die Geste zwingt, die kleine Erleuchtung des aktuellen Augenblicks.
So liefert das komplette Grimm'sche Wörterbuch, das Ecke Bonk als digitales Rollbild auf drei Wänden ablaufen lässt, zum Wort „dann“ den folgenden Eintrag, der die Gedankenkette von Grandmaster Flash umstandslos an den R-'n'-B-Star R. Kelly und seine Probleme mit 14-jährigen Spielgefährtinnen weiterreicht: „dann ist der gut gelaunte Sänger mitunter auch ein Kinderfänger“. Sagt natürlich Göthe – wie ihn die Brüder Grimm schreiben, die einstmals hier in der Bibliothek des Fridericianums für ihr Jahrhundertprojekt forschten. Oft genug führen eben nicht die expliziten Arbeiten in die politics. Und manchmal, ja, wird auch als Kunst kenntlich, was ursprünglich wirklich Sozialarbeit war. Das ist der Coup, den im kleinteiligen, detailreichen Geflecht der Exponate zu inszenieren dem nigerianischen documenta-Leiter und seinem sechsköpfigen Kokuratorenteam gelang. Die Videodokumentation des Theaterstücks „When African Women Talk Sexuality“ der Groupe Amos in der documenta-Halle etwa schlägt ohne Weiteres in Bann. Dass dieses unheilig vital inszenierte Aufklärungstheater von einem 1989 von christlichen Akademikern in Kinshasa gegründeten Kollektiv stammt, das sein Publikum über Workshops und Bildungsveranstaltungen belehren will, käme einem zuletzt in den Sinn. Diskurs und visuelles Vergnügen schließen einander eben nicht notwendigerweise aus.
Überhaupt: die documenta-Halle ist nicht der schlechteste Part im Konglomerat der Ausstellungsorte Fridericianum, Binding-Brauerei und Kulturbahnhof. Wer das von Fareed Armaly und Rashid Mashrawi geforderte Studium ihres Archivs zur Flüchtlingsgeschichte der Palästinenser nicht leisten mag, wird dennoch glücklich sein, hier einen Klassiker des arabischen Kinos zu entdecken, den Film „The Dupes“, den Tewfik Salah 1972 über das Schleusen von Flüchtlingen drehte. Hier in dem Gemisch aus Museumsshop, Cafeteria, Medienzentrum und Lesesaal wird jedenfalls endgültig deutlich, worauf alle Kunst der 11. documenta basiert – auf dem Archiv und vor allem der Aufzeichnung, der Dokumentation. Fotografie, Film, Video und DVD sind die Medien der Wahl und die von Siegfried Kracauer einstmals beschworene Errettung der äußeren Wirklichkeit das Resultat.
Das Fallen von Schnee bei Seifollah Samadian, das Vorbeitreiben einer Kuhherde im afrikanischen Dorf bei Pascale Marthine Tayou, schließlich das völlige Aufgehen im Leben eines vietnamischen Dorfs bei Trinh T. Minh-ha oder die Beobachtung einer englischen Blumenzüchterin bei Kutlug Ataman: in weiten Teilen ist die Plattform 5 ein Realismus-Studio audiovisueller Dokumentation. Und wenn zur Verteidigung der Black Boxes, die den berühmt-berüchtigten White Cube des Museums immer mehr verschwinden lassen, im Katalog gesagt wird, „auf die eine oder andere Weise sitzen wir immer bereits im Kino“, dann kommt man allerdings leicht auf einen bösen Gedanken. Offensichtlich stehen wir nämlich auf die eine oder andere Weise auch schon immer unter Beobachtung einer Kamera, die zwar nicht als Überwachungskamera intendiert ist, am Ende aber doch als solche funktioniert. Ein bisschen unheimlich, exakt im politischen Sinne, ist diese Aufzeichnungswut, die in Indien wie in Vietnam oder in Hamburg wie in Ramallah grassiert, dann doch. Oder ist genau das unser geheimer Wunschtraum? Den Spiegel, in dem wir uns unseres Selbst vergewissern, durch die Kamera zu ersetzen? (Warum sonst filmt sich der Kinderfänger R. Kelly und riskiert dafür den Knast?) Diesem Gedanken scheint jedenfalls Pascale Marthine Tayou nachzugehen, wenn er den gleichen Film im Monitor wie im Spiegel zeigt. Dass Tayou mit dem schweren Goldrahmen des Spiegels noch ein weiteres Motiv thematisiert, liegt auf der Hand: das figurative, erzählende Tafelgemälde unserer Zeit heißt Video.
Doch gerade Tayous „Game Station“ zeigt, wie auf dieser documenta das Nachdenken oft genug der Suggestivität der Anordnungen und Bilder selbst folgt und nicht der Agitprop bebilderter Thesen, die es mit den Monumentalgemälden von Leon Golub freilich auch gibt. Diese documenta 11 ist nachdenklich und unterhaltsam, sie ist global und darin wieder doch ganz lokal, sie stimuliert die politische wie die ästhetische Wahrnehmung, während man die Extreme vergebens sucht. Plakative Gesten in Richtungen Gewalt, Sex, Politik oder Technik fehlen. Die Schau ist gelungen, reich und doch – auch ziemlich protestantisch. Und zwar genau dann, wenn der Rundgang aus dem Dunkel der Videokabinen in den offenen Raum führt.
Ausgerechnet da, wo Luft, Licht und Raum in Hülle und Fülle zur Verfügung zu stehen scheinen, dürfen nur ein Dutzend Besucher den Raum durchstreifen, wie bei Dieter Roths verwunschener „Großer Tischruine“ oder Ivan Kozaric' Atelier, das er ins Museum trug. Nichts ist schließlich denkbar nüchterner als die Rotunde im Fridericianum, die Hanne Darbovens „Kontrabasssolo opus 45“, 4.004 gerahmte Zettel mit Zahlenkolonnen bedecken; nichts düsterer als der große Raum, in dem die verstorbene iranische Künstlerin Chohreh Feyzdjou ihr persönliches Erinnerungsarchiv in schwarzes Pigment tauchte; nichts kühler, reservierter als Allan Sekulas 100-teilige Fotoarbeit „Fish Story“, die von der Begegnung mit dem beschleunigten, globalisierten Kapitalismus in den großen Häfen dieser Welt berichtet. Selbst der Zukunftsstadt-Modellpark „New Babylon“ aus den 60er-Jahren, den der 82-jährige Holländer Constant auf einer Etage des Kulturbahnhofs, dem überzeugendsten Ausstellungsort, aufgebaut hat, wirkt zurückhaltend und in seinen Ausmaßen bescheiden, wo er doch von der Idee des guten urbanen Lebens her aufs Ganze geht. Ein destruktiver, wenigstens aber ungeschickter Umgang mit den unterschiedlichen Dimensionen der Arbeiten ist auch bei Yinka Shonibares „Galanterie und Ehebruch“ zu beobachten.
Diese Arbeit, eine der größten der Schau, hätte den Raum für sich alleine gebraucht, samt pastellfarbenen Wänden. Denn dieses raffinierte Theater der Begierden, das seine Akteure in den verwegensten sexuellen Handlungen begriffen sieht, ist nicht mit den faden Fotos Guiseppe Gabellones und den Gemälden von Quattara Watts gleichzustellen, die nun rundum laufen. Shonibares Protagonisten können hübscherweise nicht sehen, was sie tun, weswegen sie auch keine Köpfe brauchen. Am Sehen hindert sie sinnigerweise ihr üppiges Rokokokostüm aus buntem Baumwollstoff. Ein Stoff, der heute so authentisch für die Tracht Afrikas steht, wie nur noch das Dirndl für die Alpenregion. Beides sind natürlich Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Des Jahrhunderts, in dem die Grand Tour der britischen Aristokratie richtig populär wurde; die Bildungsreise, die auch Sextourismus war. Hier wird sogar eine postkoloniale Situation für Europa deutlich. Denn rückblickend wird der koloniale Zugriff der Inselbewohner kenntlich, die ernsthaft meinten, den Männern des Kontinents wäre es gleichgültig, dass sie deren Frauen und Töchter vögelten. Ach ja. Und da fällt einem ein, den Schweinestall der letzten documenta vermisst man am Ende doch.
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