: Der Arzt kommt gleich nicht
aus Brighton HEIKE HAARHOFF
You will need to meet me in the operating theatre complex on level 5 at the Royal Sussex County Hospital. I am operating all day, hopefully you can meet me at 8:45 am in the theatre complex.Philip Thomas
Um zwanzig vor zehn kommt Philip Thomas angehastet, „tut mir Leid, dass ich so spät dran bin“. Er lässt sich auf das Sofa im Pausenraum neben dem OP fallen, die Augen so tot wie die eines Junkies, und das Gähnen unterdrückt er erst gar nicht, dabei hat der Tag gerade erst angefangen. Unnötig, die Chirurgenhaube abzusetzen, und erst recht keine Zeit für einen Tee: der Arzt wird ohnehin nicht lange bleiben können. Sobald das Telefon klingelt, muss er zurück in den Operationssaal, und das Telefon kann jeden Moment klingeln, tags, nachts, immer, 36 Stunden pro Woche laut Vertrag und 70 Stunden im Durchschnitt und in der Wirklichkeit von Philip Thomas. Und weil das so ist, jahrein, jahraus, kann der Urologe Philip Thomas morgens um zwanzig vor zehn manchmal nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, wann eigentlich sein Arbeitstag begonnen hat und wann er enden wird im Royal Sussex County Hospital, einem staatlichen Krankenhaus mit 400.000 Patienten jährlich im Seebad Brighton im Südosten Großbritanniens, 60 Zugminuten von London entfernt und fünf Minuten zu Fuß vom Atlantik. Das Einzige, was er weiß, ist: „Ich arbeite immer gegen die Zeit.“
Gegen die Wartezeit, genauer gesagt. Philip Thomas ist seit 1995 als Urologe im Royal Sussex County Hospital tätig. Er hat reihenweise Patienten gesehen, die drei oder vier Jahre auf ihre Harnleiter- oder Nierensteinoperation warten mussten, drei oder vier Jahre auf einen Routineeingriff, drei oder vier Jahre mit Schmerzen bei jedem Urinlassen. Die Patienten der Nachbarstation, der orthopädischen Abteilung, haben zuweilen noch länger ausgeharrt, bevor ihnen Hüfte oder Kniegelenk ersetzt wurden und sie unterdessen, weil sie vor Schmerzen nicht mehr laufen konnten, in den Rollstuhl mussten. „Nicht wegen mangelnder chirurgischer oder wissenschaftlicher Kenntnis, sondern wegen eines Mangels an Betten, Pflegern, Ärzten.“ Er blinzelt mit den Augen, und es ist nicht sicher, ob vor Müdigkeit oder Wut. „Dieses Krankenhaus ist keine Ausnahme, alle Krankenhäuser dieses Landes“, er blickt zu Boden, „alle kennen Patienten, die an Hoden- oder Brustkrebs gestorben sind, nicht weil der Krebs zum Zeitpunkt der Diagnose unheilbar gewesen wäre, sondern weil bis zur Operation so viel Zeit verstrichen ist, dass sich Metastasen bilden konnten.“ Weil dieses Land, Großbritannien, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, die größte Krise seines National Health Service (NHS) durchlebt, seines staatlichen Gesundheitssystems, seit dessen Gründung 1948.
Nach Jahren radikaler Nichtinvestition auf allen Gebieten – Pflege, Gebäude, Ausbildung, Apparate, Personal, Gehälter – hält der NHS heute den traurigen Rekord der längsten Wartelisten in Westeuropa. Das System, wegen seiner kostenlosen und gleichen Behandlung aller Patienten ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Einkommens einst als Vorbild demokratischer, egalitärer und effizienter moderner Gesundheitsversorgung gepriesen, droht an seiner eigenen, konsequenten Vernachlässigung zu kollabieren. Die britische Regierung schickt deswegen seit Jahresanfang Patienten, deren Schmerzen unerträglich geworden sind, zur Operation in englische Privatkliniken sowie, erstmals in der Geschichte, in Krankenhäuser ins westeuropäische Ausland – auf Staatskosten. Im ersten Quartal 2002 wurden auf diese Weise 300 Kranke nach Frankreich und Deutschland „exportiert“, wo ihnen künstliche Gelenke eingesetzt oder Grauer Star entfernt wurden. Eine Praxis, die nur von vorübergehender Dauer sein soll, wie das britische Gesundheitsministerium versichert.
„Im letzten halben Jahr habe ich jeden Monat 50 Patienten absagen müssen, deren Operationstermin bereits feststand“, sagt Philip Thomas. 50 Patienten, das entspricht jedem Sechsten auf der Urologie in Brighton, „und diese Situation ist keine Ausnahme in diesem Land“. Manchmal sind die Patienten bereits im Krankenhaus, wenn sie erfahren, dass ihre Operation nicht stattfinden wird – nüchtern, nervös, bereit. „Just in dem Moment, wo wir eigentlich anfangen wollen, wird uns mitgeteilt, dass es kein freies Bett gibt auf der Intensivstation für die ersten 24 Stunden nach der Operation.“ Dann muss der Patient eben wieder nach Hause gehen, nüchtern, nervös, bereit, und dann hat das zehnköpfige OP-Team eben plötzlich nichts zu tun, und dann sind eben mal 8.500 Euro in den Sand gesetzt, für einen OP, der für vier Stunden umsonst reserviert wurde, für das Personal, das trotzdem bezahlt werden muss – bis zum nächsten Mal.
Am Ende konnte Anne Cullingworth, 62, nicht einmal mehr ihre Wohnung allein verlassen. „Wenn ich nur ein paar Schritte machte, weinte ich vor Schmerz. Meine Freunde kauften für mich ein, den Rest bestellte ich übers Internet, es war grauenvoll, so abhängig zu sein von anderen.“ Die Arthrose in ihrem Knie war 1998 festgestellt worden, in London, wo sie damals lebte, und ohne dass der Diagnose etwas gefolgt wäre. „Sie gaben mir Schmerztabletten und sagten, die Arthrose sei noch nicht genug fortgeschritten, als dass es sich lohne, das Knie auszutauschen.“ Dass Röntgenbilder zuweilen nicht das tatsächliche Ausmaß einer Krankheit zeigen, sorgte die behandelnden Ärzte nicht. Am 7. Januar 2002, nach dreieinhalb Jahren, während denen sie bei jedem Schritt Schmerzen hatte, sollte Anne Cullingworth schließlich doch in den Genuss einer Operation kommen in Ashford im Südosten Großbritanniens. „Mein Termin war um zwölf. Meine Tasche war schon gepackt, die Nachbarn wussten Bescheid, wie oft sie die Blumen würden gießen müssen.“ Um zehn Uhr rief das Krankenhaus an. Die Operation könne leider nicht stattfinden. Aber es gebe Hoffnung: Anne Cullingworth habe die Möglichkeit, in einer Privatklinik im französischen Lille behandelt zu werden. „Ich habe sofort zugesagt. Für mich hatte diese Vorstellung nichts Beängstigendes. Ich spreche fließend Französisch, ich habe in Frankreich gearbeitet.“
Am 18. Januar 2002 fährt Anne Cullingworth zusammen mit neun weiteren Patienten im Eurostar nach Lille. „Es war fantastisch. Die Krankenschwestern waren freundlich, die Mahlzeiten großartig, ich hatte ein Zimmer ganz für mich allein. Zu Hause wären wir zu sechst oder acht gewesen.“ Die Operation verläuft gut, und nach 16 Tagen Krankenhausaufenthalt kehrt Anne Culllingworth mit Knieprothese und weitestgehend schmerzfrei zurück nach Ashford. „In England hätten mich die Ärzte bereits nach sieben bis neun Tagen wieder vor die Tür gesetzt, ich kann also wirklich von Glück sagen, dass ich nach Lille durfte, aber wenn ich darüber nachdenke, wie weit es mit unserem Land gekommen ist – es ist eine Schande!“
Die Briten zahlen heute den Preis für fast zwei Jahrzehnte Neoliberalismus. Dem Irrglauben, dass die Behandlung kranker Menschen ein Geschäft sei wie jedes andere und der Markt den Rest schon allein regeln werde, sind Einsichten gefolgt. Krankenhäuser benötigen einen Spielraum von mindestens 20 Prozent, was die Bettenauslastung angeht. Die Regierung Thatcher aber hatte auf einer 100-prozentigen Belegung bestanden. Ergebnis: Jeder zusätzliche Unfallpatient ist heute eine mittlere Katastrophe für die Krankenhausplanung und verlängert die Wartezeiten für „normale“ Patienten um Wochen und Monate. Anstatt zu begreifen, dass jedes System Nachwuchs braucht, um sich zu erneuern, reduzierte die Tory-Regierung die Ausbildungsplätze für Mediziner und Krankenpfleger. Großbritannien rekrutiert sein Pflegepersonal heute bevorzugt aus Drittweltländern. Anstatt zu begreifen, dass EU-Mitglied zu sein auch bedeutet, EU-Richtlinien umzusetzen, zog es der Inselstaat vor, Hunderte Alten- und Pflegeheime zu schließen, deren Sicherheits- und Brandschutzvorkehrungen nicht der europäischen Norm entsprachen.
Tausende alte Menschen blockieren heute Krankenhausbetten nur deswegen, weil es keinen geeigneten Ort für sie gibt, an dem sie gepflegt werden können. Anstatt zu begreifen, dass Modernisieren mehr als punktuelles Reparieren ist, wurde sich mit oberflächlicher Schönheitsflickschusterei begnügt: das Royal Sussex County Hospital vermag sein Alter, Baujahr 1822, bestenfalls auf den ersten Blick zu verbergen. Der neue Scanner für Computertomographien steht seit einem Jahr unbenutzt und originalverpackt herum – es gibt keinen Raum, der groß genug wäre, ihn aufzustellen. In seinem Büro im Royal Sussex County Hospital sitzt Mike Warburton, Arzt für Allgemeinmedizin. Er sagt: „Jeder Wechsel ist schwierig und langwierig.“ Mike Warburton ist Mitglied des Modernisierungsteams, das von der Gemeinde Brighton, dem Krankenhaus, den Krankenkassen und dem Gesundheitsministerium ins Leben gerufen wurde. Ziel ist, gemäß des vor zwei Jahren verabschiedeten Nationalen Gesundheitsreformplans, das System innerhalb der nächsten zehn Jahre grundlegend zu erneuern, und dieses Ziel ist ehrgeizig: Die maximal zulässigen Wartezeiten sollen von derzeit 18 Monaten auf 15 Monate bis April 2003 sinken, auf neun Monate bis April 2004 und auf sechs Monate bis April 2005. Patienten, die trotzdem länger warten, werden in englischen Privatkliniken behandelt oder im Ausland, und zwar ab sofort auf Kosten des eigentlich zuständigen staatlichen Krankenhauses. In Brighton jedoch wird alles daran gesetzt, diese „Übergangslösung“ nicht zur Regel werden zu lassen. Stattdessen gibt es Überlegungen, die Notfallaufnahme vom übrigen Krankenhausbetrieb abzukoppeln, Patienten nach der Operation häufiger ambulant statt stationär zu pflegen, um Betten schneller wieder frei zu machen, und Präventivmedizin stärker zu fördern, um eine Vielzahl von Operationen erst gar nicht nötig werden zu lassen. Und natürlich hofft man auch in Brighton ganz besonders darauf, dass das Gesundheitsbudget, derzeit 91 Milliarden Euro oder ein Zehntel des nationalen Gesamthaushalts, im nächsten Jahr erhöht werden möge. „Wir sind uns dessen bewusst“, sagt Mike Warburton, „dass sich schnell etwas ändern muss, damit der Patientenexport eines Tages nicht doch zur Gewohnheit wird.“
Anne Cullingworth hätte nichts dagegen, für egal wie viele Operationen erneut nach Frankreich zu fahren. Im Januar fand sie dort ihre Jugendliebe von vor 40 Jahren wieder: Er erkannte sie im Fernsehen, als sie über ihre Erfahrung als englische Patientin in einem französischen Krankenhaus sprach.
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