: Samba der Analphabeten
Brasiliens schlechtes Abschneiden bei der Pisa-Studie war nur der jüngste Beleg: Trotz quantitativer Fortschritte spiegelt das Bildungssystem nach wie vor die ungleichen Lebenschancen im Land wider
aus São Paulo GERHARD DILGER
Severino da Silva schlug zweimal zu: Innerhalb von einer Woche bestand der 27-jährige Bäcker aus Rio de Janeiro die Aufnahmeprüfungen an zwei privaten Universitäten, zunächst für ein Jura-, dann für ein geisteswissenschaftliches Studium. Das Besondere dabei: Da Silva ist Analphabet. Dabei ist nicht mal sicher, dass die brasilianischen Privatuniversitäten die üppigen Studiengebühren wert sind, die sie ihrem neuen Studenten abknöpfen. Das Erziehungsministerium entzog gerade erst zwölf Fakultäten die Zulassung – aufgrund katastrophaler Prüfungsergebnisse.
Die jüngst veröffentlichten Ergebnisse der Pisa-Studie zeigten auf, dass der Bäcker nicht allein ist. Die Studie deckte die Schwächen des brasilianischen Bildungssystems auf: Danach sind 23 Prozent der getesteten 15-Jährigen funktionale Analphabeten, weitere 33 Prozent können gerade die wichtigsten Informationen eines Lesetexts identifizieren. In der Gesamtwertung belegte Brasilien unter 32 Ländern den letzten Platz. Zum Vergleich: In Deutschland (Platz 23) zählen „nur“ zehn Prozent zu den Analphabeten und weitere 13 Prozent sind sehr schlechte Leser.
Auch bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Tests hieß das Schlusslicht Brasilien. Dabei wurden Jugendliche aus ländlichen Gebieten, wo die Schulen noch schlechter funktionieren als in den Städten, noch nicht einmal berücksichtigt.
Einigermaßen überraschend war das Fazit, das Erziehungsminister Paulo Renato Souza bei der Präsentation der Studie zog. „Nicht der Unterricht sei schlecht“, meinte Souza, das Hauptproblem liege vielmehr darin, dass es in Brasilien zu viele „Sitzenbleiber“ gebe. Er habe noch schlechtere Werte erwartet. Die in der Pisa-Studie erzielten Ergebnisse der altersgemäß beschulten Brasilianer seien „extrem positiv“, meint der Minister. In dieser Kategorie liege das Land gleichauf mit Polen, Russland oder Griechenland.
Für das schlechte Gesamtergebnis macht er nicht ganz zu Unrecht die sozioökonomischen Probleme des Landes verantwortlich: Unter allen teilnehmenden Ländern weist Brasilien die weitaus größten Unterschiede zwischen Arm und Reich auf (siehe Kasten).
Dies ist auch eine Erklärung dafür, dass die Bildungspolitik der Mitte-rechts-Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso in den letzten sieben Jahren eher quantitative als qualitative Verbesserungen gebracht hat: Zwar sind jetzt nominell 97 Prozent aller sieben- bis 14-Jährigen eingeschult (1994: 93 Prozent), doch immer noch wiederholen 42 Prozent aller Grundschüler zwei oder mehr Schuljahre. Der Grund: Viele Schüler aus der Unterschicht besuchen nur sporadisch den Unterricht, weil sie durch Gelegenheitsjobs zum Familieneinkommen beisteuern müssen. Hier setzt das Stipendienprogramm Bolsa-Escola an.
Die neoliberale Sparpolitik der Cardoso-Regierung hat allerdings auch vor den Bildungsausgaben nicht halt gemacht. Insgesamt ist die Kluft zwischen den reichsten und den ärmsten BrasilianerInnen in den Neunzigerjahren noch tiefer geworden. Offiziell ist jeder fünfte Schwarze Analphabet, bei den Weißen sind es nur acht Prozent. Und während sich viele Lehrer an den staatlichen Schulen im armen Nordosten mit dem Mindestlohn von etwa 85 Euro begnügen müssen, gehören ihre Kollegen in den südwestlichen Bundesstaaten bereits zur aufstrebenden Mittelschicht.
Ein himmelweiter Unterschied besteht auch zwischen den öffentlichen Schulen und den teuren Privatschulen, die den Kindern aus der städtischen Mittel- und Oberschicht vorbehalten sind. Die Mathematiklehrerin Carolina Fernandes aus São Paulo etwa unterrichtet vormittags an einer Schule des Bundesstaates und nachmittags an einer städtischen Einrichtung. Nur dank ihres Zwölfstundentages kommt sie finanziell über die Runden. 90 Prozent ihrer meist weiblichen KollegInnen arbeiten ähnlich viel. „Die meisten meiner Schüler sind völlig unmotiviert“, berichtet Fernandes, bei der im Schnitt 42 Kinder im Klassenraum sitzen. Das sei ihnen nicht einmal zu verdenken, denn beim Kampf um die wenigen Universitätsplätze hätten sie kaum eine Chance gegen die viel besser vorbereiteten Privatschüler. Außerdem begünstige die Situation in den meisten Familien nicht gerade den Erfolg an der Schule.
Immerhin jeder dritte Brasilianer befindet sich derzeit in der Ausbildung, das sind 60 Millionen. Doch bis die meisten von ihnen guten Unterricht erhalten, sind noch viele Reformen nötig – und der politische Wille, die immensen sozialen Unterschiede abzubauen.
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