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Apolitischer Raum

Der ins Literaturhaus geladene Richard Powers bringt in seinem Roman „Schattenfluchten“ Wissenschaft und Kunst zusammen

von VOLKER HUMMEL

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Vielleicht noch die vorletzte Programmversion der neuesten Software. Gab es wirklich einmal eine Zeit, in der Menschen mit klobigen Headsets und Datenhandschuhendurch virtuelle Nachbildungen von Straßenzügen und Palästen laufen wollten? Eine Zeit, in der die Realität als schlecht gerendertes Auslaufmodell galt und der Sex mit Hologrammen als ideale Interaktionsform? Gab es wirklich Menschen, die eine feinpixelige Rose ohnen Dornen einem realen Blutstropfen vorgezogen hätten?

Wer Richard Powers‘ Roman Schattenflucht zur Hand nimmt, sollte zumindest noch eine vage Erinnerung an die späten 80er und frühen 90er Jahre des letzten Jahrhunderts haben, die Blütezeit des bunten Cyberspace, der Virtual Reality und des unbeschränkten Fortschrittglaubens. Denn große Teile der Handlung spielen 1989 in Seattle, wo eine Hand voll begnadeter Angestellter der Firma TeraSys im so genannten Realization Lab (RL) an der Realität 2.0 herumbastelt. In seinem siebten Roman hat sich Richard Powers also wieder in eines jener Zwischenreiche begeben, für deren Darstellung er inzwischen berühmt ist. Ob er sich nun in The Gold Bug Variationsdem genetischen Code widmet oder in Galatea 2.2 der Künstlichen Intelligenz: Immer sucht Powers Wissenschaft und Kunst zusammenzuführen.

Auch Schattenflucht besticht durch Metaphern, die technische Vorgänge anschaulich machen, durch die Fülle literarischer und kunsthistorischer Assoziationen. Was jedoch fehlt, ist eine überzeugende Darstellung des Politischen, die dem Geschehen eine glaubhafte dritte Dimension hinzugefügt hätte. Woran es den Figuren mangelt, allen voran der Heldin Adie Klarpol, der Künstlerin des Teams, ist das Bewusstsein, keineswegs in einem herrschaftsfreien Bereich zu arbeiten, sondern Teil eines militärisch-ökonomischen Komplexes zu sein. Es mag ja sein, dass Idealismus und Naivität damals zum Rüstzeug gehörten, aber gepaart mit der für Powers‘ Figuren typischen Genialität wird daraus ein über weite Strecken ungoutierbarer Mix.

Natürlich ist Richard Powers aufgeklärter als seine Figuren. Ganz bewusst hat er die Handlung in einer Zeit angesiedelt, in der nicht nur der VR-Hype auf seinem Höhepunkt war, sondern die Welt im Umbruch. Ab und zu versammeln sich Adie und ihre Kollegen mit staunenden Gesichtern vor ihren Bildschirmen, um die weltpolitischen Umwälzungen zu verfolgen: das Massaker auf dem Tienanmen-Platz, das Zusammenbrechen des Ostblocks. Während also im RL an der großen Orakel-Maschine gebaut wird, die alle Eventualitäten vorherberechnet, findet auf der Weltbühne ein geopolitischer Paradigmenwechsel statt.

Es ist ein zweiter, um einiges interessanterer Handlungsstrang des Romans, der sich wenigstens ansatzweise dieser neuen politischen Unübersichtlichkeit, die den bipolaren Kalten Krieg ablöst, widmet. Er dreht sich um den Lehrer Taimur Martin, der aus den USA nach Beirut zieht. Schon bald wird er entführt und in einen kleinen Raum gesperrt. Aus dem unbeteiligten Beobachter wird so selbst ein Akteur auf der politischen Bühne, wenn auch ein passiver.

Beirut ist für Powers paradigmatischer Ort des Verlusts amerikanischer Unschuld. Mit ihrer unüberschaubaren Menge an politischen und religiösen Parteien erscheint die libanesische Hauptstadt als Hort des unkontrollierbaren Anderen, das Moskau endgültig abgelöst hat. Leider verlieren sich an diesem unübersichtlichen Ort auch die politischen Ambitionen des zweiten Handlungsstrangs. Auch wenn Martin nach einiger Zeit den Namen der Gruppe seiner Entführer erfährt, interessiert sich sein Autor darüber hinaus nicht für die politischen Gegebenheiten des Nahen Ostens. Powers geht es vielmehr um eine nahtlose Analogisierung der Virtualisierungs-Bemühungen des RL und der erzwungenen Fantasiereiche eines Mannes mit Augenbinde. Der dunkleRaum des Gefangenen wird zu einem Erinnerungspalast, der dem Realization Lab an Detailreichtum, sensorischer Fülle und emotionaler Echtheit nicht nachsteht.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Richard Powers ein Meister darin ist, den komplexen Strukturen menschlicher Erinnerung nachzuspüren und Analogien zwischen technischen und mentalen Netzwerken zu schaffen.

Warum dann aber diese Langeweile über weite Strecken? Vielleicht liegt es daran, dass Richard Powers neben all den Themen, die Schattenflucht streift, gerade die Politik weiter als sonst in den Vordergrund zu schieben versucht. Und daran scheitert. Die „Schattenflucht“ seiner Figuren, dieses Bemühen, sich in einen widerspruchsfreien utopischen Raum hineinzuphantasieren, prägt auch den Roman als Ganzes. Welches politische Geschehen auch in die Mangel von Powers‘ Virtualisierungs-Prosa gerät, es endet als ideale Landschaft. Mag sich die Welt noch so sehr verändern, Powers‘ Glaube an die Macht menschlicher Kreativität verschönt noch jedes Drecksloch mit einem idealistischen Anstrich. Und das wird dem Leser manchmal einfach zu viel.

Richard Powers: Schattenflucht. S. Fischer Verlag 2002, 543 Seiten, 24,90 Euro

Lesung Dienstag, 18. Juni, 20 Uhr, Literaturhaus

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