: Frequenzen des Unbewussten
Radiowellen plus kollektive Phantasie gleich Subversion: Die „Mental-Radio-Show“ von Lignas Musikbox will im Rahmen der artgenda Psikräfte nachweisen – und im Neuen Cinema sowie über den Äther Lenin neu interpretieren
von ROGER BEHRENS
Die unwirtliche Großstadt, das Leben in den engen Zimmern des Alltags ist durch das Radio nicht wohnlicher, gemütlicher geworden. Der Raum, der durch den Rundfunk gewonnen ist, übersteigt zwar die engen vier Wände, bleibt aber unheimlich. Die Frequenzen sehen wir nicht, und die Nachrichten, die sie tragen, sind nur durch die Technik selbst in Kommunikation zurückzuübersetzen: Diese Sprache braucht Lautsprecher.
Diese Unheimlichkeit ist aber eine soziale Ortlosigkeit und zur politischen Strategie wird die Möglichkeit, sich in ihr einzurichten. Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen von Lignas Musikbox auf FSK möchten in diesem Sinne die Unkontrollierbarkeit des Radios ausloten, die Grenzen weit über technische Zwänge des Geräts verschieben und so das Medium der Zerstreuung in eine Zerstreuung der Medien verwandeln.
Dazu gehört, das Radio als zweite Bühne zu nutzen, gerade indem es auf der ersten Bühne inszeniert wird: Im Rahmen der artgenda wird das im Neuen Cinema die Mental-Radio-Show sein. Ligna sind die Paten der Künstlerinnen und Künstler, die in dieser Radio-Show „Unhörbares hörbar“ machen. Norbert Walczak schichtet Radiowellen übereinander; der Posaunist Elias Feingersh macht Ähnliches mit Luftsäulen. Marianne Bramsen wird ihren Körper zum Klingen bringen, wohingegen die Künstlergruppe Fortschritt-Labor umgekehrt Sprache und Semantik zerstört, Klang unhörbar macht. Lisa Jeannin lässt Tiere musizieren, während Pawel Grabowski die alte Spytrasmission wiederbelebt.
„Alles kann passieren“, heißt es, wenn Alexander Rischer sein Medium in Trance versetzt: Telekinese und Teleportation wird erprobt und auf materialistische Möglichkeiten überprüft. Gelingt es, per Gedanken- und Radioübertragung kraft der Konzentration Dinge zu bewegen, Situationen zu verändern? Wer hier Esoterik vermutet, liegt falsch. Vielmehr sollen ja alle Geheimnisse der Psiwissenschaft öffentlich gemacht werden. Überprüft wird im Hören selbst, das wache Ohr lässt sich weit weniger täuschen als das träge Auge.
Gleich dem Optisch-Unbewussten, das uns die Fotografie und der Film freisetzen, könnte das Radio uns ein Akustisch-Unbewusstes vermitteln, könnten die Zwischenräume in den Frequenzen auf einmal deutlich werden; es könnte aber auch einfach in der Nähe der Rundfunk-Empfänger etwas Ungewöhnliches geschehen: paranormale Phänomene oder außersinnliche Wahrnehmung (ASW).
Die werden seit 1942 in der Wissenschaft mit Psi bezeichnet, dem 23. Buchstaben des griechischen Alphabets (bei mathematischen Gleichungen gelegentlich als Bezeichnung für eine unbekannte Größe), einer Abkürzung für Psyche. Dazu gehören Telepathie, Hellsehen und das Voraussagen kommender Ereignisse; später die Telekinese, als die Fernübertragung von Kräften, und das Beeinflussen von Geschehen durch Gedanken.
Das wird nun per Radio radikalisiert, einen Kerngedanken der kritischen Theorie aufgreifend: Es gibt kein Wesen, auf das der Mensch festgelegt wäre, außer seine geschichtliche Veränderbarkeit; auch die Sinne gehören dazu, wir sehen heute mit anderen Augen und überhaupt anders, als vor zehntausend Jahren.
Und wer weiß, ob an diesem Abend nicht noch ganz andere, neue Sinne freigesetzt werden. Elektrizität plus Sowjetmacht gleich Sozialismus? Ligna wird Lenin angesichts gegenwärtiger elektrischer und politischer Entladungen neu definieren: Radiowellen plus kollektive Phantasie gleich Subversion.
Di, 18. Juni, 20 Uhr, Neues Cinema (Steindamm), und live im FSK (93.0 MHz); Karten im Schauspielhaus und artgenda-Center
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen