: Orte, an denen es rau zugeht
Zwei Jahre vor der Osterweiterung der Europäischen Union sucht Berlin noch immer seine Identität. Warum kommt es nicht auf das Naheliegende? Warum stellt man sich nicht der geografischen Realität und sucht seine Chancen als Grenzstadt?
von UWE RADA
Ist Berlin schön? Ist Berlin kalt? Ist Berlin Metropole, die größte Stadt zwischen Paris und Moskau? Oder ist es Provinz, das größte Millionendorf östlich der Elbe?
Suche nach dem Leitbild
Anders als die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John, die sich der Frage „Was ist deutsch?“ einmal dadurch näherte, hunderte von möglichen und sich zum Teil widersprechenden Antworten auf ein Plakat zu drucken, sucht Berlin immer noch nach eindeutigen Antworten. Das gilt auch selbst dreizehn Jahre nach dem Fall der Mauer, der Berlin um die einzige wirklich eindeutige Identität gebracht hat: die einer geteilten Stadt.
Ein Leitbild, sagte Meinolf Dierkes vom Wissenschaftszentrum Berlin vor einiger Zeit, gehe von der Gegenwart aus und projiziere das Wünschbare und das Machbare in die Zukunft. So betrachtet sind Leitbilder auch immer ein Spiegel der jeweiligen Hoffnungen. Nach den Wendejahren mit ihren Metaphern von der „zusammenwachsenden“ Stadt und der „größten Baustelle Europas“ war es Mitte der Neunzigerjahre vor allem die Marketinggesellschaft Partner für Berlin, die sich in die Leitbilddebatte einmischte. Das Ergebnis lautete – so eindeutig wie vielsagend – „Das Neue Berlin“.
Zur Überschrift „Neues Berlin“ gehörte so ziemlich alles, mit dem man die Stadt heute in Verbindung bringt, vom Neuen Potsdamer Platz über die Neue Mitte bis zu den Neuen Hackeschen Höfen mit ihren Neuen Kreativen, von denen man sich lange Zeit erhofft hat, sie möchten frischen Wind und ordentlich Steuern in die Stadt bringen.
Mit dem Ende der Ära Volker Hassemer als Geschäftsführer von Partner für Berlin geht nun aber auch das „Neue Berlin“ zu Ende. Berlin ist unter Hassemers Nachfolger Leopold von Stechow wieder auf der Suche. Doch wird es damit auch erwachsen? Wird es endlich, wie Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John, auch Widersprüche aushalten können?
Um sich dieser Frage zu nähern, sollen hier drei Leitbilder einmal gegen den Strich gebürstet werden, mit denen für „Das Neue Berlin“ im Ausland geworben wird. Zugleich soll diesen drei Begriffen ein anderer entgegengestellt werden, nicht als Leitbild, sondern als Denkfigur. Als Denkfigur allerdings, die bei der Berliner Identitätensuche insofern hilfreich sein könnte, als sie sich der veränderten Wirklichkeit der Stadt wieder etwas nähert. Die Rede ist von Berlin als Grenzstadt.
Ost-West-Stadt?
„Berlin“, heißt es zu diesem ersten Leitbild, „ist eine Ost-West-Stadt. Es liegt im Herzen eines zukünftig vereinten Europa.“
Doch ist der Osten wirklich so nahe liegend, wie es der Begriff Ost-West-Stadt suggeriert? Endet die Wahrnehmung der meisten Berliner nicht immer noch an der Oder?
Ganz anders dagegen sieht es auf der polnischen Seite aus. Hier ist Berlin in den vergangenen Jahren immer näher gerückt. Die Stettiner fliegen ab Tegel und die jungen Breslauer kommen mit der Bahn zur Love-Parade.
Wie aber ist dieses Missverhältnis zu erklären? Warum strafen die Berliner das eigene Leitbild so sehr Lügen?
Nachdem Anfang der Achtzigerjahre in Westberlin noch die „Helden der Solidarność“ gefeiert wurden, war schon wenige Jahre später die Stimmung umgekippt. Aus den Helden waren plötzlich Händler geworden, und Orte wie der Potsdamer Platz wurden über Nacht zu Polenmärkten. Es war ein kollektives Unbehagen, das sich hier zeigte. Auf dem Potsdamer Platz begegneten sich die westliche und die östliche Kultur des Kontinents, und sie begegneten sich mit Erschrecken. Den Beginn der europäischen Vereinigung hatte man sich anders vorgestellt.
Daran hat sich auch nach dem Mauerfall nur wenig geändert. Im Gegenteil: Je östlicher Berlin wurde, desto trotziger richteten die Berliner den Blick in Richtung Westen. Nach den Jahren der europäischen Teilung und der Berliner Mauer wollte man nicht schon wieder eine Grenzstadt sein, sondern mittendrin.
Die Grenze zum Osten
Was aber könnte ein Begriff wie Grenzstadt in diesem Zusammenhang ändern?
Zunächst einmal wären damit andere Erwartungen verbunden. Anders als „Ost-West-Metropole“ würde der Begriff der Grenzstadt Berlin tatsächlich auf Tuchfühlung mit seinem neuen Osten bringen. Vor allem aber würde er neue Blicke öffnen. Auf die mehr als 130.000 polnischsprachigen Berliner zum Beispiel, oder auf die Städte und Landschaften östlich der Oder.
Richtete man den Blick nicht nur nach Westen, würde der Schulsenator vielleicht an mehr als drei Schulen Polnischunterricht anbieten, weil auch er endlich begriffe, dass Zweisprachigkeit in jedem Grenzgebiet der Welt eine Qualifikation ist. Und natürlich auch die Grundlage für kulturelle Begegnungen. Doch was für das deutsch-französische Grenzgebiet eine Selbstverständlichkeit ist, scheint in Berlin immer noch nicht angekommen zu sein.
Stadt in Bewegung?
„Stadt in Bewegung“ heißt das zweite Leitbild, das hier hinterfragt werden soll. „Neue Infrastruktur, Modernisierung und Bautätigkeit“, heißt es dazu bei Partner für Berlin, „rufen Kreativität und Innovation in Wissenschaft und Forschung hervor.“
Auch „Stadt in Bewegung“ hat damit mehr mit Hoffnungen als mit Realitäten zu tun. Mit dem Begriff „Wirtschaftsstandort Berlin“ will man inzwischen nicht mehr werben, vielleicht weil es sich inzwischen herumgesprochen hat, dass Warschau Berlin inzwischen längst als Boomtown abgehängt hat. Und ist nicht sogar der Anteil der Berliner Exporte nach Polen im Vergleich zu dem anderer Bundesländer drastisch zurückgegangen?
Als Gründe für diese Berliner Exportschwäche nennt der Osteuropabeauftragte des Berliner Senats, Wolfram O. Martinsen, einen „Mangel an Begegnungskultur“. Zu diesem Mangel gehört aber auch die mangelnde Wahrnehmungsbereitschaft gegenüber der Ökonomie, die der Osten in den Westen bringt.
Dabei müsste man nur die Augen aufmachen. Zum Beispiel am Halleschen Tor in Kreuzberg. Dort stehen die neuen Unternehmer aus dem Osten, bewaffnet mit nicht mehr als einem Eimer voll Spülwasser und einem Gummiwischer. Wenn die Ampeln von Grün auf Rot springen, suchen sie den Blickkontakt der Autofahrer, dann geht alles ganz schnell. In Sekundenschnelle werden die Autoscheiben eingeseift, trocken gewischt, und noch bevor die Ampeln wieder auf Grün springen, ist das Geschäft gemacht. Ein paar Groschen, Danke, der Nächste bitte. Das ist der Rhythmus der neuen Selbständigkeit auf den Berliner Straßen.
Grenzwirtschaft
Es sind vor allem junge Polen, die den Job des Autoscheibenwäschers nach Berlin gebracht haben und an den Straßenkreuzungen der Stadt einsteigen in die unterste Stufe der Dienstleistungsökonomie. Doch diese Realität einer Ost-West-Drehscheibe möchte man in Berlin nicht wahrhaben. Dabei ist es ganz offensichtlich: Eine andere Realität gibt es vorläufig nicht.
Würde man Berlin endlich als Grenzstadt begreifen, würde man dagegen auch einen anderen Blick auf die Grenzen der „Legalökonomie“ bekommen. Dann wäre die Nachricht, dass in Berlin bereits jede vierte Mark in der Schattenwirtschaft erwirtschaftet wird, nicht nur Bedrohung, sondern auch Möglichkeit.
Doch in Berlin, dem deutschen Spitzenreiter in Sachen Schattenwirtschaft, reden wir noch immer lieber von Schwarzarbeit anstatt, wie in Frankreich oder Großbritannien, von informeller Ökonomie.
Und noch immer müssen sich französische und britische Soziologen, wenn sie in Berlin sind, darüber beschweren, dass das Thema informelle Ökonomie keinen Einzug in die Stadtplanung gefunden habe. Andere Grenzstädte sind da weiter, haben längst begriffen, dass informelle Ökonomie auch ein Schritt in Richtung Integration von Einwanderern ist.
Warum sehen wir all dem nicht ähnlich gelassen entgegen wie in Warschau, auch so eine Grenzstadt wie Berlin? Dort war man auf den Schwarzmarkt im Stadion des Stadtteils Praga lange Zeit stolz. Warum? Weil es vom Umsatz her das größte Unternehmen Polens war.
Warum nur fürchtet man sich in Berlin vor solcher Zukunft? Nur weil es in Grenzstädten etwas rauer zugeht, manchmal auch ungehobelt? Was aber unterscheidet die Glücksritter an den Straßenkreuzungen von denen des „Neuen Marktes“?
Stadt zum Leben?
Das dritte Leitbild, das hier zur Disposition gestellt werden soll, heißt „Berlin – eine Stadt zum Leben“. „Deutschlands größte Stadt“, heißt es dazu bei Partner für Berlin, „ist tolerant und kosmopolitisch und bietet allen Lebensstilen Platz.“
Im Bild vom toleranten und kosmopolitischen Berlin haben inzwischen auch die Osteuropäer ihren Platz. Vor allem wenn sie Wladimir Kaminer heißen und im Kaffee Burger jedes Wochenende zur Russendisko einladen. So zumindest steht es in einer Broschüre, die Partner für Berlin herausgegeben und die mittlerweile ihre zweite Auflage erreicht hat. Ihr Titel: „Das neue russische Berlin“.
Ein anderes russisches Berlin dagegen kommt in dieser Broschüre nicht vor. Es ist das russische Berlin in Marzahn. 14.000 Russlanddeutsche und ihre Familienangehörigen haben sich in den vergangenen Jahren zwischen der Allee der Kosmonauten und der Havemannstraße niedergelassen. Und sie haben begonnen, sich im öffentlichen Raum von Marzahn bemerkbar zu machen. Bereits an den S-Bahnhöfen findet man kyrillische Hinweisschilder, zu den vietnamesischen Läden und Händlern haben sich russische gesellt. Fernab der alten Heimat hält man die Erinnerung wach mit Piroggen, Pelmeni und Mischka-Konfekt. Marzahn, für Westberliner noch immer der Inbegriff von Plattenbautristesse, rechten Jugendbanden und PDS-Milieu, ist in Wirklichkeit der Einwanderungsbezirk des Berliner Ostens geworden.
Was wir in der mangelnden Bereitschaft, nicht nur Russen wie Kaminer, sondern auch die Namenlosen in Marzahn zur Kenntnis zu nehmen, sehen können, ist eine neue Form der Grenzziehung: die zwischen kultureller Bereicherung und kultureller Bedrohung. Mit dieser Grenzziehung versichert sich ein zunehmend verunsicherter Westen seiner selbst, in dem er mit dem Finger auf andere zeigt. Die Soziologen nennen das „Einschluss“ und „Ausschluss“.
Nirgendwo wird diese Grenzziehung derzeit deutlicher als in der Stadtplanung, etwa wenn der Stadthistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm feststellt: „Der Osten ist entweder leer: rund um den Fernsehturm, oder jener graue, proletige, osteuropäische Osten, den man schon gar nicht mag.“ Oder wenn der Architekturkritiker Michael Mönninger den Alexanderplatz als „Vorposten der Mongolei“ bezeichnet. Oder wenn Bausenator Peter Strieder den bislang „offenen Alexanderplatz“ endlich „schließen“ möchte, rein städtebaulich, versteht sich. Es scheint als wäre das verzweifelte Insistieren auf Berlin als „europäischer Stadt“ auch eine Reaktion auf die eigene Osteuropäisierung.
Grenzen überwinden
Als Grenzstadt freilich müsste man Räume nicht schließen, sondern könnte den Blick in die Zukunft hinein öffnen. Dann würde man nicht nur die neuen Zentren wie den Hackeschen Markt und nicht nur die kulturelle Bereicherung von Russen wie Kaminer wahrnehmen, sondern auch die neuen Peripherien. Dazu gehören wie Marzahn auch die städtebaulichen Peripherien, die ähnlich wie die Schattenwirtschaft in der Ökonomie auch immer Anlaufstellen sind, Auffangorte, Transitorte.
Dass man solche Orte heute mehr denn je braucht, müsste in einer Grenzstadt eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Doch diese Selbstverständlichkeit setzte keine neuen Grenzen voraus, die es zu ziehen gälte, sondern im Gegenteil deren Überwindung. Sie bedeutete, sich nicht, wie an manchen Orten, wie in einer Wagenburg gegen den „Wilden Osten“ zu verschanzen, sondern die Wagenburgen aufzulösen. Sie bedeutete nicht Einschluss und Ausschluss, sondern die Bereitschaft, auch denen, die hierher kommen, ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Berlin als Grenzstadt, das ist sicher kein Leitbild im herkömmlichen Sinne, kein positives Identifikationsangebot für die Mehrheit der Bewohner dieser Stadt. Aber es ermöglicht immerhin einen Blickwechsel. Auch auf die eigene Stadt, die inzwischen viel östlicher ist, als es manchem lieb ist.
Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung in Berlin
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