: Verkehrte Ornithologie
Die Woche der schönen Wahrheiten (4) Heute: Das Nachhallen der Nachtigallen
Dass es in einer Millionenstadt neben Pinschern aller Couleur und Haarlänge auch freie, echte, naturidentische Tiere gibt, dass sich in Berlin wirkliche, sicht- und hörbar große Naturwesen in Berlin tummeln könnten, gar eine exklusive Vogelwelt dort die Fittiche spreizen, das stand nie zur Debatte. Ausgeschlossen. Schräg sind die Berliner Vögel sicher, aber selten?
Die andernorts fast verschwundenen Haussperlinge und Rauchschwalben, die Mauersegler in den Abbruchfassaden in Friedrichshain und am Prenzlauer Berg gingen ja noch an, die Ringeltauben- und Nebelkrähenplage fand stillschweigende Billigung in meinem ornithologisch geschulten Verstand, Zugformationen von Kranichen und ausruhende Kanadagänse in Tegel, Kormorane und Graureiher am Osthafen waren erklärlich und irgendwie noch hinnehmbar, turtelnde Steinkäuze in Pankow nicht unmöglich, doch dann, eines schönen Maientages im Treptower Park begann mich die Berliner Vogelwelt mit Keulenschlägen ganz zarter Art langsam umzuhauen.
Zunächst vernahm ich nur das jahreszeitübliche Kammerkonzert aus Amseln, Rotkehlchen, Mönchsgrasmücken, Zaunkönigen und Singdrosseln (was in Blickweite zum Stadtzentrum erstaunlich genug war), doch auf einmal hörte ich sie nicht nur trapsen, sondern schmettern, jubilieren, tirilieren – mit einem Crescendo, dass Heinz Sielmann glatt vor Freude ins Richtmikrofon gebissen hätte: Nachtigallen überschlugen sich da und schlugen, wohin das Gehör reichte! Mitnichten spielte nur ein singulär versprengtes Vögelchen auf, ein Irrgast oder eine Tonbandaufnahme, wie es in westdeutschen Fußgängerzonen in den Achtzigerjahren Mode war. Nein, es flöteten zweie, dreie, was sag ich: zwei, drei Dutzend. Der ganze Uferstreifen quoll über vor kleinen gefiederten Minnesängern.
Es war der blanke Schock. Als einstiger Vorkämpfer des Vogelschutzes in den Betonwüsteneien der alten Bundesländer hatte ich vor einem Vierteljahrhundert noch zeitaufwändige Exkursionen an abgehängte Altarme von Rhein, Main und Neckar unternommen, um mit der Ahnung des Nachhalls eines halben Abgesangs einer Nachtigall aus weiter, weiter Ferne beseelt heimzukehren, und jetzt das …
Ringsum auf dem Rasen fand die normale Berliner Vogelkunde ihre Forschungsgegenstände, Schluckspechte regulierten ihren Bierpegel, Streithähne hetzten einander die Kampfhunde an den Hals, Aasgeier stocherten in übervollen Müllkörben nach Pfandflaschen. Niemand außer mir schien das Treptower Nachtigallenwunder zu bemerken. Keiner war da, der meinen Enthusiasmus verstanden hätte. Auch nicht, als sich zwischen den Scharen von ordinären Blesshühnern am Spreeufer zaghaft ein groß- und grünfüßiges Teichhuhn zeigte.
Die nächsten Streiche der geflügelten Berliner Natur, die offenbar Gefallen daran gefunden hatte, mich geplagten Großstadtornithologen aus der Fassung zu bringen, ließen nicht lange auf sich warten. Ein Mäusebussard am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park jagte seelenruhig nach den Kleintieren, die ihn groß gemacht hatten, ein Grünspecht auf der Halbinsel Stralau hob – darin beileibe nicht grün – ein komplettes Ameisennest aus. Am Maybachufer paradierten vor den türkischen Marktständen farbenfrohe Mandarinenten.
Unterhalb der Elsenbrücke, am Hafen der Weißen Flotte, stockte mein Herzschlag schließlich kurz, aber vollends angesichts eines veritablen Haubentauchers! Nie zuvor hatte ich diesen einstigen Nachrücker auf der Roten Liste so nah zu Gesicht bekommen, und nun machte er hier, vor der Silhouette von Kommerz und Konsum, seinem Namen alle Ehre: Er tauchte ab. Selbstredend stand ich mit meiner rührseligen Begeisterung allein auf weiter, betonierter Flur.
Im Hintergrund blinkte ebenso ungerührt wie extraterrestrisch der Fernsehturm. Ein Schwarzspecht in der Murellenschlucht unweit des Olympiastadions, Weiß- und Schwarzstörche im Teufelsbruch, ein Seeadler über Karlshorst, Eisvögel im Britzer Garten. Ich notierte derlei Randbeobachtungen bald nahezu apathisch. Scharen von Kernbeißern im Stadtzentrum, wen juckte das?
Sicher, zugegeben, ich wäre wohl noch zu retten gewesen, wenn ich mich in meinem grottenartigen Kreuzberger Zimmer zum Hinterhof verbarrikadiert und ins höhnische Gelächter der Lachmöwen eingestimmt hätte, die dort ab und an am Himmel sichtbar vorüberdefilierten. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Musste ich noch hören, was sich in der Treptower Königsheide am verwunschenen Teltowkanal an mein Ohr drängte, nebst originalem vielstimmigem Froschgequake? War dies noch nötig gewesen? Hätte dieser vermaledeite Kuckuck nicht einfach seinen Schnabel halten können?
TOM WOLF
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