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Siegestaumel am Ku‘damm

Die türkische Community Berlins feierte gestern den WM-Erfolg ihrer Nationalelf auf der Straße und in Kneipen überschwänglich und bis in die Abendstunden. Verkehrschaos durch spontanen Autokorso

von CHRISTOPH SCHULZE

Atila war gestern außer Rand und Band. Atila ist drei Jahre alt und 70 Zentimeter groß und wirbelte mittags wild tobend durch seine Kita in Schöneberg: „Galatasaray! Türkiye!“ Der Anlass für den Jubel des Minimachos mit dem Goldkettchen um den Hals war, na logisch, der Sieg des türkischen Nationalteams über China bei der Fußball-WM.

Aber nicht nur in der Kita, in ganz Berlin feierte die fußballverrückte türkische Community den historischen Erfolg ihrer Kicker. Durch das 3:0 im letzten Gruppenspiel gelang es der Türkei erstmals, die Vorrunde bei einer Weltmeisterschaft zu überstehen. Am augenscheinlichsten wurde die Fußballparty im Sony Center am Potsdamer Platz zelebriert. 2.000 Fans bejubelten die Treffer von Sas, Korkmaz und Davala – „Türkiye, Türkiye“-Sprechchöre und begeistertes Schwenken der Nationalfahne inklusive. Nach dem Schlusspfiff ging es erst richtig los: 600 formierten sich zu einem spontanen Jubelumzug durch die City. Mit dem Auto und zu Fuß ging es vom Potsdamer Platz über den Ku’damm, Kant- und Tauentzienstraße. Der Korso löste zeitweilig ein Verkehrschaos aus. Im Sony Center gab es diesmal also ein Freudenfest anstatt Randale. Am 3. des Monats war es an selber Stelle noch zu Auschreitungen zwischen 400 türkischen und 60 brasilianischen Fans gekommen. Nach dem umstrittenen 2:1-Sieg Brasiliens waren die Emotionen übergekocht, erst ein größeres Polizeiaufgebot konnte die Streithähne auseinander bringen.

Auch Kreuzberg stand unmittelbar nach dem gestrigen Spiel Kopf: Türkeifahnen, lachende und feiernde Menschen dominierten zum Beispiel das Bild rund um das Kottbusser Tor. Aus Jubel, Hupkonzerten und platzenden Knallfröschen bestand die passende Geräuschkulisse.

Die meisten Anhänger der Türkei, die das vormittägliche Spektakel im Fernsehen verfolgen konnten, schauten gemeinschaftlich, in Kneipen, Imbissläden oder in Restaurants. „Ich bin glücklich“, freute sich beispielsweise Özcan Deniz, als er zusammen mit 100 anderen in der Kreuzberger Gaststätte „Zum Tor“ Zeuge des 1:0 wurde. Mit einem kleinen Wimpel ausstaffiert war Deniz zum Spiel angerückt. Nach dem Führungstreffer hieß es erst einmal abwarten und türkischen Tee trinken, den Wirtin Hatice Kurz dutzendweise an die Tische reichte. Lange Zeit war sie die einzige Frau in der Gaststätte.

Für blankes Entsetzen sorgte der 2:3-Zwischenstand beim Spiel Costa Rica gegen Brasilien. „Oh nein“, klagten die Fans. Damit wäre die Türkei wegen des schlechteren Torverhältnisses ausgeschieden. Doch wenig später wandelte sich ja noch alles zum Guten und die Frage des Wunschgegners für das Achtelfinale konnte nach dem Siegestaumel diskutiert werden. Özcan Deniz tippt, dass die Türkei auf Russland treffen wird – und 2:1 gewinnt.

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