: Der Kanzler ist immer der Gärtner
von JAN ROSENKRANZ und ROLF ZÖLLNER (Fotos)
Sie hatten ihn doch eigentlich nur eingeladen, weil es in der Kolonie noch keinen Strom gab damals. Und weil er doch dieses handbetriebene Koffer-Grammophon hatte. Und all die Schellackplatten. Margot, die Tochter der Laube, wurde gerade 17 und er an diesem Abend ihr Liebster und schließlich ihr zukünftiger Gatte. Das hatten sie nun davon. In diesem Sommer 1938 beschloss die Liebe, dass aus Bernhard Ziemer ein Kleingärtner werden würde. Heute ist er 81, sitzt auf der Eckbank in seiner Laube, die ein wenig modrig riecht, und ruft nach seiner Tochter: „Margit, hol doch mal den ollen Kasten.“ Und Margit beginnt zu suchen. Es ist Mittwochnachmittag.
Heute, am Freitag, wenn das Bundestagsplenum zum Afghanistan-Einsatz und zum Fischetikettierungsgesetz getagt hat und auch die Rede auf dem Verbandstag des Schornsteinfegerhandwerks in Halle längst gehalten wurde, wird sich ein Tross den Asternweg hinunterwälzen. Und zwischen Kameramännern, Fotografen und Personenschützern wird ein jovial lächelnder Mann schreiten. Er wird das Wetter bewerten und die frisch gestutzten Hecken loben, wird den Menschen zuwinken, die hinter den Hecken und in ihren Blumenrabatten stehen und ihm zurufen werden: Guten Tag, Herr Bundeskanzler oder Grüß dich, Gerd. „Ich werde ihm von Mensch zu Mensch begegnen“, sagt Kleingärtner Ziemer.
Heute Nachmittag wird der Bundeskanzler die Kolonie „Abendruh“ besuchen, um den Laubenpiepern bei ihren Vorbereitungen für den 13. Steglitzer Kleingartentag über die Schulter zu schauen. So steht es in der offiziellen Einladung. Inoffiziell heißt das, er kann am Samstag, dem 13. Steglitzer Kleingartentag, nicht kommen und kommt darum freitags. Ein Programm wird ihm trotzdem geboten: Zwei Sänger werden etwas singen, die Kindertanzgruppe der Kolonie wird etwas tanzen, es wird etwas gegrillt und etwas Bier wird der Kanzler wohl auch bekommen. Bernhard Ziemer darf mit an seinem Tisch sitzen. Weil das die Fotografen lieben. Weil er mit 81 Jahren – weiße Haare, braune Haut – noch in voller Blüte steht. Weil er allein über die Laube stundenlang erzählen kann.
Schwiegervater hat die Laube 1920 zum ersten Mal in Wilmersdorf aufgestellt. Dann kamen Bauarbeiter und Schwiegervater musste die Laube in den Grunewald verfrachten. Und als da wieder Bauarbeiter kamen, da hat er die Laube noch mal zerlegt und mit dem Handwagen eigenhändig in die Kolonie „Abendruh“ expediert. „Die hält noch ne Weile“, sagt Ziemer und klopft gegen die hölzerne Wand. Er hat eine Dokumentation erarbeitet zur Geschichte der Kolonie – 1919 gegründet – mit alten Fotos und Dokumenten. Die will er dem Kanzler zeigen, sofern der das möchte.
Am Rande der Festwiese laufen die Vorbereitungen der Freitagsvorbereitungen bereits am Mittwochnachmittag. Unter dem flachen Vordach der Vereinskantine trinken die Handwerker ihr drittes Schultheiss, während eine Dekorateurin sämtliche Streben und Stangen mit gefärbten Strohblumen und taubenblauem Stoff verkleidet. Die Bühne gegenüber ist noch von einer Bretterwand vedeckt, doch zwischen den Bäumen ringsherum sind schon bunte Girlanden gespannt – Plastikwimpel folgt Partyleuchte folgt Plastikwimpel.
Bernhard Ziemer ist eigentlich nur der zweitälteste Laubenpieper auf „Abendruh“. Der wahre Älteste ist leider schon zu verblüht, als dass man ihm den Kanzler zumuten könnte. Am Freitag gibt Ziemer darum den ältesten Schrebergärtner. „Der Kanzler ist unser Gast und wir werden gute Gastgeber sein“, sagt Ulrich Sommer, Erster Vorsitzender der „Kolonie Abendruh e. V.“. Sommer trägt einen grau-braunen Anzug mit Krawatte, ist Doktor der Chemie und wundert sich, unter welchen Sicherheitsauflagen so ein Kanzlerauftritt heutzutage abläuft. Das BKA hat sich schon alles genau angesehen, hat gesagt, was wo und wie abgesperrt werden muss, aber eigentlich möchte Sommer darüber nicht so viel sagen.
Lieber erzählt er über die vier Meter hohe Eberesche im schwarzen Plastikkübel, die sich hinter rotweißem Absperrband im Wind wiegt. Die soll nämlich der Kanzler pflanzen. Das Loch ist schon ausgehoben. Die Öko-Gruppe der Kolonie habe richtig geschwärmt, erzählt Sommer, toll, eine Eberesche, 30 Vogelarten picken ihre roten Beeren und 50 Insektenarten fühlen sich wohl auf ihr. Sommer hat zwar seine Zweifel, ob es hier überhaupt so viele gibt, aber egal. Hübsch wird sie aussehen, die Esche, und Schatten spenden vor dem neuen Vereinshaus, das die Kolonisten hier errichten wollen, wird sie auch.
Bislang kündet nur ein hüfthoher frisch gemauerter Block zwei Meter neben der Pflanzgrube vom vereinenden Neubau. Doch schon am Samstag, wenn die echte Party steigt, wird der Bezirksbürgermeister hier den Grundstein legen. Der Mann ist von der CDU – wenn sie nicht aufpassen, wer weiß, vielleicht legt Schröder den Grundstein am Freitag gleich mit. Es ist Wahlkampf, da wird gekämpft um jeden Strauch und jeden Stein und jede Wählerstimme.
Die Wahl ist der Rummelplatz des kleinen Mannes, das hat schon Tucholsky gewusst und Schröder hat es nicht vergessen. Es gibt 1.035.000 Schrebergärten in Deutschland, 82.160 in Berlin und in der Steglitzer Kolonie „Abendruh“ immerhin 500 – plus Ehefrau plus Freunde ergibt das ein beachtliches Wählerpotenzial. Darum will der Kanzler die Schrebergärtner ja besuchen.
Darum gibt es auch zwei Versionen darüber, wie es dazu kam. Aus dem Büro des SPD-Direktkandidaten Klaus-Uwe Benneter heißt es: „Die Kleingärtner sind an uns herangetreten.“ Aus dem Büro des Bezirksverbandes der Steglitzer Kleingärtner heißt es: „Die von der SPD sind an uns herangetreten.“ Am Freitag „besucht Bundeskanzler Gerhard Schröder“ die Kleingärtner, heißt es in der Ankündigung des Vereins. „Wir laden Sie herzlich zu diesem Termin ein“, verkündet die SPD in der schriftlichen Einladung an die Presse.
Vor zwei Jahren war der Kanzler im Berliner Bezirk Wedding, in der Kolonie „Togo“, hat einen Apfelbaum gepflanzt, den Wilhelm-Naulin-Preis der Kleingärtner bekommen und warme Worte gegeben. War gut angekommen. Warum also sollte das dieses Jahr anders sein. Der Kanzler kann jede Stimme gebrauchen und Klaus-Uwe Benneter auch. Er will Steglitz-Zehlendorf verteidigen, einen gutbürgerlichen Wahlkreis, den zuletzt die SPD knapp von der CDU erobert hatte. Vielleicht klappt es ja dieses Mal wieder. Wenn sogar der Kanzler, ein alter Freund Benneters, kommt.
„Der Kanzler und ich – da gibt es mehrere Duplizitäten“, sagt Bernhard Ziemer. Und er zählt auf: Der Kanzler raucht Zigarre – ick ooch. Der Kanzler färbt sich nicht die Haare – ick ooch. Der Kanzler liebt seinen Garten – ick ooch. Hat er ja neulich erst bei Biolek erzählt, dass er dieses Jahr nur so acht bis zehn Tage Urlaub macht und nicht in Italien, sondern im Garten.
Und all jene, die das nicht gesehen haben, werden es wohl heute Nachmittag erfahren, wenn der Kanzler seine Rede hält. Er wird betonen, wie wichtig Schrebergärten sind – als grüne Lunge für die Stadt, als Naherholungsgebiet und als Teil sozialdemokratischer Identität, waren es doch vor allem Arbeiter, die einst aus dunklen Hinterhöfen auf preiswerte Parzellen drängten. Kurzum: Es gilt sie zu schützen gegen die Feinde gepachteter Gemütlichkeit.
Das wird sie freuen. Denn Laubenpieper haben es nicht leicht in Berlin. Irgendwer versucht immer, ihnen die Scholle streitig zu machen. Mal die Berliner FDP, die erst im März gefordert hat, alle innerstädtischen Kolonien aufzulösen, um Bauland zu gewinnen. Mal ein Investor, wie gerade in Schöneberg, der eine große Halle errichten will, in die ein 50 Meter hoher Hügel passt, auf dem man dann das ganze Jahr über Ski fahren kann. Auch auf „Abendruh“ hat niemand vergessen, wie oft ihre Siedlung schon bedroht worden ist von denen da oben bei der Stadtplanung. „Als Berlin die Olympiade haben wollte, da sollte genau hier das Olympische Dorf hin, und als Berlin Hauptstadt wurde, da sollten die Bonner Beamten genau hier ihre Wohnungen bekommen“, sagt der Vereinsvorsitzende Ulrich Sommer. Ein paar mahnende Worte des Kanzlers wären auf jeden Fall angebracht.
Wenn alle Bäume gepflanzt, alle Reden gehalten und alle Lieder gesungen sind, dann soll Schröder Ziemers Parzelle besuchen. So ist es zumindest geplant. Er soll durch das rot blühende Rosentor schreiten, den schmalen Weg entlang zur gemütlichen Sitzecke, geschützt hinter Büschen, wo Ziemer ihm gern einen selbst gebrannten Liebstöckel-Schnaps anbieten würde – oder auch Brombeer. „Eigentlich hätten die Männer vom BKA schon am Montag kommen wollen, um sich hier umzusehen“, sagt Margit sorgenvoll und überlegt, ob sie in den letzten 50 Jahren irgendwas Verbotenes getan haben könnte. Ihr fällt nichts ein, außer dass ihr Sohn auf einer Demo mal mit Trillerpfeife protestiert hat. Da haben sie ihn in die grüne Minna gesteckt und aufs Revier gebracht. „Aber da war er ja erst 17“, sagt sie und sucht weiter nach dem Grammophon.
„Ich hab’s“, ruft Margit und trägt einen dunklen Holzkoffer herbei. Der Vater strahlt wie der Gartenzwerg, der vor der Laube Wache schiebt, klappt den Kasten auf, streichelt zärtlich den roten Filz auf dem Plattenteller und sagt sehnsüchtig: „Sehn Se, das war Amor, der mich zu meiner Frau gebracht hat.“ Damals im Sommer 1938, als die Liebe auch beschlossen hat, dass aus Bernhard Ziemer ein Kleingärtner wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen