: Die verzauberte Stadtoase
Sang- und klanglos ging der 125. Geburtstag des Strandbades Plötzensee gestern vorüber. Gebaut wurde das Bad, weil zu viele Menschen an diesem Ort verschwanden. Es liegt an einem See, der schwer an der Geschichte trägt. Ein Graureiher hält Wache
von WALTRAUD SCHWAB
Kein Wunder wird dem Plötzensee mit Argwohn begegnet. Soll er doch das schwarze Loch sein, in dem Dinge, ganze Dörfer sogar und Menschen verschwinden. Gelegentlich auch wieder auftauchen. Je nach Belieben. Ein See ist es, dem das Dunkle und Abwesende anhängt wie eine zweite Haut. Als einfarbiger Fleck zieht er sich auf der Berliner Landkarte ein kurzes Stück den Hohenzollernkanal hinterm Westhafen entlang.
Einer Sage zufolge war dort, wo heute der See liegt, einmal ein Dorf mit einer Zisterne. Der Dorfschulze soll ein Menschenschinder gewesen sein. Eines Tages wurde er von einem Geist auf jene Weise gepeinigt, wie er es mit seinen Untergebenen tat. Der Schulze aber war dem Geist überlegen und warf ihn in den Brunnen. Daraufhin ließ der Geist diesen überlaufen. Das Dorf versank in den Fluten.
Dass diese Geschichte nur wenige Tage vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in der Berliner Volkszeitung, für die auch Carl von Ossietzky schrieb, zu lesen war, ist sicher kein Zufall. Vor welchem Retter, der in den Untergang führt, in dem auch die Gepeinigten versinken, wird hier wirklich gewarnt?
Gierig sei der Plötzensee lange gewesen. „Totes Meer“ wurde er früher wohl von den Berlinern genannt. Nicht wenige sind in ihm ertrunken. Dies soll ein Grund dafür gewesen sein, dass das Strandbad an der Westseite des Sees angelegt wurde. Gestern vor 125 Jahren wurde es eröffnet. Niemand beging das Jubiläum.
Schon der gepflasterte Weg hinter dem Eingang zum Strandbad, gesäumt von Jasmin, Kastanien, Buchen und Wiesen, wirkt wie aus einer vergangenen Zeit. Wer sich nach links wendet, kommt zur Treppe, die zwei halbrunde, verwitterte Gebäude verbindet und hinunter zum Wasser führt. Wie kleine Inseln, in denen Privates nur noch dem gegenüberliegenden Ufer dargeboten wird, stehen die Strandkörbe im Sand. Rechts und links wird der Lido von backsteinernen Türmen gesäumt. An heißen Tagen gibt es dort – und nicht nur am Imbiss oben auf der Terrasse – Eis und Limonade zu kaufen. Selten ist das, denn die Berliner Sommer sind launisch.
Hier, an dieser städtischen Riviera, verbringen die Weddinger und Moabiter ihre Ferien. Taxifahrer und Arbeitslose, Friseusen und Apothekenhelferinnen, Sportskanonen, jugendliche Taugenichtse, FKK-verwöhnte Verliebte, sonnenhungrige Mütter, gelangweilte Väter und Kinder, denen die Haut an den Fingern verschrumpelt und die Lippen blau anlaufen, weil sie immer zu lange im Wasser sind. Das Eigene wird für wenige Tage nicht vor dem Blick des Nachbarn verborgen: die Knutschflecken am Hals nicht – „wie heißt er denn?“ – und nicht die Schwangerschaftsstreifen am Bauch – „das kommt davon!“. Das Pfund zu viel ist Schicksal wie auch der behaarte Körper, der Mann und frühe Hominiden verschmelzen lässt. Jeder ist sein eigenes Universum.
Das Bad verbreitet altes Flair, denn seit Jahren wurde nicht viel Geld in die Renovierung gesteckt. Die Türme, Terrassen, Duschen sind verwittert, der betonierte Steg ist uneben unter den Füßen und trocken wie klumpiger Sand. Ein Ort, der nicht herausgeputzt wurde fürs 21. Jahrhundert. Mit der still stehenden Zeit von früher wird auch die von heute verlangsamt. Weil es sich beim Plötzensee jedoch um eine Verzauberung handelt, verändert sich die Wahrnehmung, sobald das trübe Wasser den Körper umschließt. Alles ist eine Frage der Fantasie: Die Trauerweiden werden zu Wasserfällen, die Plötzen zu Zierfischen und die früher wichtigen Ukeleis, aus deren silbrigen Schuppen in Frankreich künstliche Perlen gemacht wurden, taugen noch immer zum Glücksbringer.
Bewacht wird der See auch dieses Jahr vom Graureiher. „Wie ein Buchhalter“, ruft eine Frau im Wasser, als sie ihn in einem abgestorbenen Baum sitzen sieht: Stoisch, mit weißem Kragen und eingezogenen Schultern starrt er ins Nichts. Ein Einzelgänger. Einmal aber, an einem Sonntag im letzten August, wurden vier Reiher auf dem Baum gesichtet. Alle starrten in die gleiche Richtung. Vermutlich teilten sie dabei das Revier neu auf. Alles wie im richtigen Leben. Denn auch das bankrotte Berlin versucht derzeit, die Ufer des innerstädtischen Arkadien zu versilbern. Die Zukunft des Strandbades ist offen.
Bis heute ist es so, dass die, die der Magie des Ortes verfallen sind und begeistert davon erzählen, kaum Neugier im Gegenüber wecken. Als gäbe es den See in der Stadt eigentlich nicht. Was in solchen Momenten dann sogar stimmen mag. Denn Wirklichkeit wird in Worten hergestellt. Und verworfen. Weil der See seinen Namen mit dem Gefängnis und der Hinrichtungsstätte der Nazis teilt, sieht, wer „Plötzensee“ hört, selten eine Oase. Auf der anderen Seite des Hohenzollernkanals gelegen, wirft das backsteinerne Gebäude, das heute Gedenkstätte ist, seinen Schatten bis an die Ufer des Sees. Über 3.000 Menschen wurden dort geköpft, erhängt, ermordet. Nur Vogelstimmen und der Duft blühender Hecken durchdringen die Leere, die da ist, wo die Menschen starben. Einmal sah ich einen alten Berliner beim Verlassen der Gedenkstätte auf den gepflasterten Hof spucken. Seine Ungehörigkeit dem Ort und dem Schweigen gegenüber entsetzte ihn selbst. „Det war ’n Vasehn, det tut mir Leid“, sagte er. Dann drehte er sich um und schrie den Toten seine wirkliche Entschuldigung entgegen. „Hier war die Hölle los, und ick hab drüben jebadet. Det verzeih ick mir nie.“
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