KAMPF GEGEN SPÄTABTREIBUNGEN RICHTET SICH VOR ALLEM GEGEN FRAUEN: Unbarmherzige Lebensschützer
Es ist eine paradoxe Situation. Eigentlich wollte der Gesetzgeber 1995 Abtreibungen wegen der drohenden Behinderung des Kindes erschweren. Deshalb wurde eine Bestimmung im Strafgesetzbuch gestrichen, die Schwangerschaftsabbrüche in diesen Fällen ausdrücklich erlaubte. Vermutlich gibt es heute aber eher mehr Abtreibungen in diesem Zusammenhang. Denn bei einer medizinischen Indikation – also drohender Gefahr für die Gesundheit der Frau – kann bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden, die gestrichene eugenische Indikation sah dagegen eine Frist bis zur 22. Woche vor. Viele „Lebensschützer“ hatten gehofft, dass der Bundesgerichtshof nun die alte Frist wieder einführe oder zumindest das Bundesverfassungsgericht um eine Entscheidung bitte.
Das hat er aber nicht getan. Zu Recht. Denn es kann nicht sein, dass nach der 22. Schwangerschaftswoche Gesundheit und Leben der Frau automatisch hinter dem Lebensrecht des Fötus zurückstehen müssen. Auch jede Verschärfung der Anforderungen an die Notlage der Frau ist problematisch. Schon die Annahme, dass Frauen zu diesem Zeitpunkt leichtfertig abtreiben, ist gefühllos.
Die derzeitige Beratungsregelung ist bis zur Drei-Monats-Frist relativ liberal. Wer danach noch schwanger ist und zur pränatalen Diagnostik geht, will eigentlich ein Kind und wird sich mit jeder Entscheidung gegen den Nachwuchs sicher mehr als schwer tun. Die CDU/CSU will nun bei der Feststellung der medizinischen Indikation in solchen Fällen ein interdisziplinäres Expertengremium einschalten. Dieses bürokratische Verfahren ist aber kein Beitrag dazu, notwendige Abtreibungen so früh wie möglich durchführen zu können.
Vermutlich geht es auch weniger um den zusätzlichen Sachverstand. Die Union traut den Frauen nicht – und den Ärzten auch nicht. Deshalb soll die Frau in einer Situation extremer seelischer Anspannung vor einem Kollegium misstrauischer Damen und Herren ausführen, warum sie sich bei der Geburt eines behinderten Kindes selbstmord- oder depressionsgefährdet sieht. Ein Szenario, das labile Menschen vermutlich erst recht in Angst und Schrecken versetzt. Einen Vorgeschmack auf solche Gespräche lieferte am Dienstag die Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof. Dort musste sich die ständig mit den Tränen kämpfende Mutter vom gegnerischen Anwalt anhören, dass ihre Depressionen nicht schwer genug seien und eine Abtreibung in ihrem Fall daher nicht in Frage gekommen wäre. Die ganze Diskussion um Spätabtreibungen zeigt: Lebensschützer können ziemlich menschenfeindlich sein. CHRISTIAN RATH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen