: „In gewagter Weise ausgereizt“
Auszüge aus den „Anmerkungen“ von Bundespräsident Johannes Rau zu seiner Entscheidung, das Zuwanderungsgesetz zu unterschreiben
von JOHANNES RAU
Ich erwarte, dass das Amt des Bundespräsidenten nicht in die parteipolitische Auseinandersetzung hineingezogen wird, wie das in den vergangenen Wochen gelegentlich versucht worden ist. Ich erwarte, dass auch diejenigen meine Entscheidung respektieren, die meinen, sie nicht akzeptieren zu können. Das gebietet der Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten, das mir gegenwärtig anvertraut ist.
Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesrates ist das Wort „Verfassungsbruch“ gefallen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Er bedeutet ja, dass jemand bewusst und vorsätzlich gegen die Verfassung gehandelt hat. Verfassungsjuristen unterscheiden dagegen nur, ob ein Vorgang verfassungsgemäß ist oder nicht. Auch ich empfehle diese sachliche Sprache. Dabei will ich nicht beschönigen, was geschehen ist. In der Sitzung des Bundesrates am 22. März ist eine verfassungsrechtliche Verfahrensvorschrift in gewagter Weise ausgereizt und damit eine politische Kampfsituation auf die Spitze getrieben worden. Das hat eine verfassungsrechtliche Frage offen gelegt, die in der mehr als fünfzigjährigen Geschichte des Bundesrates bisher noch nicht von Bedeutung war. […]
In den vergangenen Wochen habe ich immer wieder gelesen, dass Kritiker des Gesetzes mit dem Gang nach Karlsruhe „drohten“. Ich verstehe das nicht als „Drohung“. Ich hielte es sogar für wünschenswert, wenn das Bundesverfassungsgericht diese Frage klärte, damit alle, vor allem der Bundesrat und die Länder, Rechtssicherheit haben. Das ist die originäre Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts und nicht die des Bundespräsidenten.
[…] Die Art und Weise, wie einige der Beteiligten auf allen Seiten den Ablauf dieser Bundesratssitzung – in welchem Maße auch immer – erkennbar abgesprochen und politisch inszeniert haben, hat auf viele Menschen einen verheerenden Eindruck gemacht. Was am 22. März im Bundesrat geschehen ist, das hat dem Ansehen der Politik insgesamt geschadet und die ohnehin verbreitete Politik- oder Parteienverdrossenheit verstärkt. Das Vertrauen in die Institutionen unseres Staates und in die Ordnungsgemäßheit seiner Verfahren ist geschwächt worden. […] Ich bin der Auffassung, dass die Art und Weise, wie die Sitzung des Bundesrates am 22. März verlaufen ist, dem Ansehen von Staat und Politik Schaden zugefügt hat. Ich rüge das Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines Stellvertreters. Ich rüge und ermahne aber auch alle Übrigen, die zu diesem Ansehensverlust beigetragen haben. Ich neige nicht vorschnell zur „Parteienschelte“. Ich habe oft gesagt, dass berechtigte Kritik an einzelnen Ereignissen oder an Fehlentwicklungen nicht dazu führen sollte, „das Parteiwesen“ in Bausch und Bogen zu verurteilen. […] Der politische Streit zwischen den Parteien darf sein und muss sein. Der Streit darf aber nicht in einer Art und Weise inszeniert werden, wie das am 22. März im Bundesrat geschehen ist.
[…] Nach unserem Grundgesetz ist der Bundesrat weder Vollzugsorgan der Bundesregierung noch verlängerter Arm der Opposition im Deutschen Bundestag. Nach seiner Zusammensetzung und seiner Aufgabenstellung ist der Bundesrat als Integrationsorgan geschaffen, das Bundes- und Länderinteressen miteinander abstimmen soll. Der Bundesrat kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn er nach eigenen Maßstäben entscheidet und wenn er sich um die aus der Sache notwendigen Lösungen bemüht; er könnte es dagegen nicht, wenn er sich von Wünschen anderer Bundesorgane oder von parteipolitischer Strategie vereinnahmen ließe. Nicht erst beim Zuwanderungsgesetz ist deutlich geworden, wie stark die parteipolitische Einflussnahme auf das Abstimmungsverhalten der Länder geworden ist. Das sage ich in alle Richtungen, an alle Parteien gewandt. Auch in der Vergangenheit hat es – durchaus wechselnd und in umgekehrter parteipolitischer Konstellation als heute – Zeiten gegeben, in denen eine von der Bundestagsmehrheit abweichende Mehrheit im Bundesrat ihre Position in einer Weise genutzt hat, die sich nicht nur an den Interessen der Länder orientiert hat.
Meine letzte Anmerkung gilt dem Inhalt des Gesetzes selbst, der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und der Regelung des Aufenthalts und der Integration von Ausländern. Der Inhalt des Gesetzes ist hinter dem Streit um das Verfahren völlig in den Hintergrund geraten. Alle Parteien, die Kirchen, Gewerkschaften und Industrieverbände sind sich doch einig: Wir brauchen eine grundlegende gesetzliche Neuregelung dieser Fragen. […] Darum bedauere ich, dass es an der Beharrlichkeit und am gegenseitigen Vertrauen gemangelt hat, alle Möglichkeiten auszuloten, doch noch zu einem Konsens über die verbliebenen Unterschiede zu gelangen. Viele tragen Verantwortung für das, was am 22. März geschehen ist. Darum sollte niemand versuchen, die Verantwortung auf die jeweils „andere Seite“ abzuwälzen.
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