: Ohne Zweifel nicht offenkundig
Bayern, Baden-Württemberg und Hessen wollen gegen das Gesetz klagen. Die Unions-Länder müssten mindestens fünf der acht RichterInnen im zuständigen Zweiten Senat auf ihre Seite ziehen
Johannes Rau wandte exakt den gleichen Maßstab an wie seine Amtsvorgänger von der CDU/CSU, Karl Carstens und Roman Herzog. Diese hatten in den Jahren 1981 und 1994 ebenfalls Gesetze unterzeichnet, bei denen die Bundesratsrolle strittig war. Nur wenn ein Gesetz unterzeichnet und verkündet ist, so das von Carstens entwickelte Argument, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden und eine verbindliche Klärung herbeiführen. Dagegen sahen es auch Raus Vorgänger nicht als Aufgabe des Bundespräsidenten, über „verfassungsrechtliche Zweifelsfragen eine endgültige Entscheidung zu treffen“.
Minutiös schilderte Rau deshalb gestern noch einmal, wie uneindeutig die Verfassungslage im Hinblick auf die entscheidende Bundesratsabstimmung ist. Zwar bestimme das Grundgesetz eindeutig, dass die Stimmen eines Landes „nur einheitlich“ abgegeben werden können. Was aber die Folge ist, wenn von zwei Landesvertretern einer „ja“, der andere „nein“ sagt, lasse das Grundgesetz offen und habe auch das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden.
Rau wies darauf hin, dass auch angesehene Verfassungsrechtler in den Wochen nach dem Eklat zu völlig unterschiedlichen Bewertungen kamen. Für die einen waren die Stimmen Brandenburgs sofort ungültig, andere wollten Bundesratspräsident Wowereit durchaus eine Nachfrage zubilligen, um doch noch ein Abstimmungsverhalten im Sinne des Grundgesetzes zu erreichen.
Doch auch wenn man eine Nachfrage erlaube, so dozierte Rau weiter, sei umstritten, ob und wie das von Wowereit letztlich festgestellte Ja Brandenburgs eigentlich zustande kommen konnte. War es die Richtlinienkompetenz von Ministerpräsident Stolpe, die den Streit seiner Minister Ziel (SPD) und Schönbohm (CDU) beendete? War es der unklare Widerspruch von Schönbohm („Sie kennen meine Auffassung“) nach der ersten Nachfrage, oder war es das Schweigen Schönbohms nach dem zweiten Nachhaken Wowereits?
Wer eine Klage für notwendig halte, dem stehe „der Weg dazu jetzt offen“, schloss Rau seine juristischen Ausführungen, und es klang fast wie eine Aufforderung. Entsprechende Ankündigungen seitens der unionsregierten Länder ließen gestern dann auch nicht lange auf sich warten. Zumindest Hessen, Bayern, Thüringen sowie das Saarland wollen das Gesetz auf den Karlsruher Prüfstand stellen. Dagegen wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf eine Klage verzichten. „Da es um eine Abstimmung im Bundesrat geht, sind die Länder hier sachnäher“, begründete dies ein Sprecher.
Tatsächlich wird es bei der von den Ländern angekündigten abstrakten Normenkontrolle ausschließlich um die Frage gehen, ob das Gesetz formal korrekt (also mit Zustimmung des Bundesrates) zustande gekommen ist. Dagegen gibt es am Gesetz nur politische, nicht aber verfassungsrechtliche Kritik.
Eingereicht werden kann eine Klage, sobald das Zuwanderungsgesetz im Bundesgesetzblatt steht, voraussichtlich ab Dienstag. Doch selbst wenn die Länder schon fertige Schriftsätze in den Schubladen hätten, wird das Verfassungsgericht wohl kaum vor In-Kraft-Treten des Gesetzes am 1. Januar 2003 zu einem Urteil kommen.
Wollen die Länder schon das In-Kraft-Treten verhindern, müssten sie eine einstweilige Anordnung beantragen. Daran werde „derzeit jedoch nicht gedacht“, erklärte gestern der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU). Zu gering sind wohl die Chancen, mit einem Eilverfahren in Karlsruhe Erfolg zu haben. Schließlich wären bei einem In-Kraft-Treten des Gesetzes bis zum Urteil keine schweren Nachteile zu erwarten.
Über die Erfolgsaussichten der Klage kann derzeit natürlich nur spekuliert werden. Die Unions-Länder müssen jedoch mindestens fünf der acht RichterInnen im zuständigen Zweiten Senat auf ihre Seite ziehen. Angesichts der vielfältigen Positionen, die unter Staatsrechtlern vertreten werden, dürfte das nicht einfach sein. Vorbereitet wird das Urteil, je nach Ansatz der Klage, entweder vom konservativen Richter Udo Di Fabio oder vom eher linken Bertold Sommer. CHRISTIAN RATH
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