: Sinnenreiche Erlebnisse am laufenden Band
Urbane Entertainment Center sind der Versuch, kommerzträchtige Plätze zu schaffen, wo Menschen shoppen, schauen, essen, Kinder im Kindergarten und Männer an der Bar abgeliefert werden. Eine Exkursion zu Englands neuen „Freizeitkathedralen“ wie The Printworks, Star City und Bluewater
von GÜNTER ERMLICH
Zehn Uhr morgens in der Balloon Lane. Frank Sinatra singt schon ein Lied, Vögel zwitschern um die Wette, unsichtbare Autos hupen und aus dem Irgendwo pfeift ein Zug. Kopfsteine pflastern die Balloon Lane, aus Kanaldeckeln entweichen Nebelschwaden. „Evening Cronicle“ steht oben an einem Ziegelsteingebäude, dessen Fassade große Schwarzweißbilder von Setzern, Druckern und Redakteuren bei der Arbeit zeigen. Eigentlich ist sie keine richtige Straße, die Balloon Lane im englischen Manchester. Sie tut nur so. In Wirklichkeit ist sie eine überdachte Erlebnispassage für Fußgänger, vielleicht eine Viertelmeile lang. „The Printworks“ heißt der im November 2000 eröffnete urbane Mikrokosmos. Früher stand auf diesem Areal das Zeitungsverlagsgebäude der Mirror Group. Als diese ihr Quartier aufgab, verfiel das leer stehende Gebäude, verkam das Gelände zur innerstädtischen Problemzone.
„Eine andere Welt“ verspricht heute der neue Freizeitkomplex seiner Kundschaft. Auf drei Stockwerken stehen zu Diensten: ein Multiplex-Kino mit 20 Leinwänden, eine Gesundheits- und Fitness-Oase, ein Buchladen und verschiedene Themenrestaurants wie das Hard Rock Café, die Nudelbar Wagamama, das postmoderne Norwegian Blue, das Old Orleans im Mardi-Gras-Stil und Tiger Tiger mit Schanklizenz bis zwei Uhr nachts.
„Once inside, reality will cease to exist“, lockt The Printworks listig. Wie kommt der Realitätsverzicht zustande? Durch eine Rolle rückwärts, die thematische Besinnung auf das längst vergangene Manchester. Die Balloon Lane atmet das „working street life“ des industriellen Manchester. Eine künstliche Beatmung. Denn das Dekor ist nur historische Hülle, eine aus vielen Zitaten zusammengebastelte Vergangenheit, die es so perfekt und verdichtet nie gab. Eine blitzsaubere, aufgeräumte, durchgestylte Arbeitswelt – thematisch in Szene gesetzt, um die neue Freizeitwelt besser verkaufen zu können. Eigentlich eine Ironie, denkt man an die schlimmen Zustände, die Friedrich Engels vor 150 Jahren in Manchester vorfand.
Computergesteuerte Beleuchtung ersetzt das natürliche Licht. Per Knopfdruck verwandelt sich ein Teil der Decke zur Living Ceiling, auf der Weltraumflüge, Unterwassersequenzen, Lichtshows oder Fußballübertragungen projiziert werden. Lautsprecher mit bis zu 8000 Watt Spitze machen die Musik.
Wozu das ganze Theater? Die Inszenierung und Thematisierung des Freizeitkomplexes dient nur einem Zweck: Sie will sinnenreiche Erlebnisse am laufenden Band produzieren und damit die Verweildauer der Konsumenten erhöhen.
The Printworks gehört zur Gattung der Urban Entertainment Center (UEC). Dieser Immobilientyp ist Freizeit-, Einkaufs- und Erlebniscenter unter einem Dach, eine geballte Mischung aus Einzelhandel, Themengastronomie und Unterhaltungsattraktionen. Damit ein UEC auch so richtig brummt, braucht es unbedingt einen Besuchermagneten. In der Regel sind das Kaufhäuser oder Großkinos.
Ihren Ursprung haben die urbanen Freizeitwelten in den Vereinigten Staaten, wo bereits viele Center bestehen. Mit sieben bis acht Jahren Verzögerung schwappen die US-Kreationen als „verspätete Heckwelle“ nach Europa, beobachtet der Trendforscher Ludwig Morasch. Hier sind es vor allem die Briten, die eifrig Megafreizeitprojekte aus den USA kopieren und damit dann auch auf den deutschen Markt drängen (der englische Unternehmer Eddie Healey baute das CentrO in Oberhausen, Deutschlands erste Megamall). Im Jahr 1999 existierten hierzulande etwa 40 konkrete Projektentwicklungen von Freizeit- und Erlebniskomplexen.
Die spannende Frage: Werden auch die Deutschen in die neuen Konsum- und Vergnügungsstätten pilgern? Oder bleiben sie Wald und Wochenmarkt treu? Um „die neuen Kathedralen“ der Freizeitgesellschaft in Augenschein zu nehmen und von den Briten zu lernen, tourten Leute vom Fach durch England: Architekten, Designer, Projektentwickler, Banker und Freizeitforscher folgten der Einladung der Thomas-Morus-Akademie, die seit vielen Jahren mit ihren Veranstaltungen Trendscout in Sachen Erlebnis- und Freizeitwelten ist.
„Alles hier ist brandneu“, erklärt Dan Davis von The Printworks, „und alle Materialien sind echt.“ Zum Beweis haut er, tok, tok, mit der rechten Faust gegen die Häuserwand aus rotem Ziegelstein. Echt – aber nur bis sechs Meter Höhe. Darüber seien die Ziegelsteine aus Pappmaché, räumt Davis ein. „Wenn die Fassaden in fünf Jahren dreckig geworden sind oder einfach nur unmodern“, erklärt er die Vorteile der Kulissenarchitektur, „kann man sie ruck, zuck abreißen und zum Beispiel durch Glas ersetzen.“
Leisure, Muße und Freizeit, ist heute das Schlüsselwort der Stadtentwickler in den früheren englischen Industriemetropolen wie Manchester, Liverpool und Leeds. An das frühere „Cottonopolis“ des 19. Jahrhunderts, das industrielle Manchester, mit seinen Gerbereien, Färbereien, Baumwollmühlen erinnert nur mehr der Name: The Printworks bedeutet „Kattunfabrik“.
Inzwischen ist es 12.30 Uhr. Doch nur ein paar Besucher schlendern durch die Passage, und nur ein paar mehr sitzen in den Lokalen. Sieht so ein „people magnet“ aus? Immerhin fünf bis sechs Millionen Kunden pro Jahr (umgerechnet 30.0000 täglich) sollen es nach dem Willen der Betreiber schon sein, die zum Schauen und Shoppen, Essen und Trinken, Filmegucken und Wellnessen herkommen.
Ortswechsel. Von Manchester nach „Star City“ an die Peripherie von Birmingham. Der Leisure Park umfasst die üblichen Versatzstücke eines Urban Entertainment Centers: Kinokomplex (Warner Village, 30 Leinwände), Superbowl mit 24 Bahnen, Healthclub, Restaurants, Nachtclubs und Einzelhandelsgeschäfte. Star City wurde auf dem ehemaligen Gelände eines Umspannwerks gebaut und liegt direkt am Autobahnkreuz der M 6. Früher und zum Teil auch noch heute eine unsichere Gegend. Kriminalität, Drogen, Prostitution. Das soll mit der Ansiedlung von Star City nun anders werden. „Your are 24 hours under C.C.T.V.“ verkünden Schilder schon auf dem Parkplatz. Die Videoüberwachung ist lückenlos. Selbst der Center-Manager spricht von einem „security overkill“. Es gäbe viele ethnische Minoritäten in Birmingham, da sei Zoff an der Tagesordnung. Daher hätte man auch das Sicherheitspersonal multiethnisch zusammengestellt: Jamaikaner, Muslime, Sikhs. Wenn dann ein muslimischer Gast Trouble mache, müsse ihn ein muslimischer Securitymann „behandeln“.
Der erste Eindruck: ein architektonischer Bastard aus Türmen, horizontalen Metallkonstruktionen, die an Achterbahnen erinnern, knallbunten Fassaden mit Firmenlogos. Im Innenbereich suggerieren Straßen, Plätze und ein glasüberdecktes Atrium urbanes Leben. Alles furchtbar grell, bonbonfarben, kitschig. Bei Dunkelheit leuchten die Türme wie Tannenbäume, Tausende bunter Neonlämpchen illuminieren das Ensemble. Ein bisschen Las Vegas muss wohl sein – zur Steigerung des „Wow-Faktors“ bei den Kunden.
Star City sei ein „architektonisch missglücktes“ Bauwerk, meint Freizeitexperte Wenzel und gibt ihm „eine Lebensdauer von zehn bis höchstens zwanzig Jahren“. Nach dieser Zeit habe sich auch die Investition amortisiert. Etwas länger sollte der Lebenszyklus von Bluewater schon sein, bei einer Gesamtinvestition von rund 750 Millionen Euro. Bluewater in der Grafschaft Kent, 35 Kilometer östlich von London gelegen, ist die augenblicklich größte und modernste Shoppingmall in Europa.
Halb Wintergarten, halb Flughafenterminal, liegt Bluewater in der Mulde eines ehemaligen Kreidesteinbruchs. Eine Million Bäumchen und Büsche flankieren 13.000 überbreite Parkplätze. Draußen vor der Tür kann der Papa mit dem Sohn auf künstlichen Seen Elektro-Modellboote steuern, während die Mama mit der Tochter auf einem Tandem den Komplex auf Radwegen umkurvt. Drinnen ist das Center in Form eines Dreiecks angelegt, an deren kuppelbedeckten Eckplätzen Kaufhäuser ihren Standort haben. Jede der drei Triangel-Malls zielt mit eigenem Konzept auf eine Käufergruppe: die Guild Hall mit Designerläden, Lifestyle-Geschäften und Gourmetrestaurants für die Upper Class, The Rose Gallery mit Lego- und Disneystores für Familien mit Kindern, The Thames Walk mit Shopping, Cafés und Entertainment für den Yuppie. 160.000 Quadratmeter „Erlebnismasse“ mit 320 Shops und 40 Restaurants. 80.000 Besucher strömen täglich herbei. Im Schnitt lassen sie 50 Euro pro Person in den Kassen.
Eleganz der Architektur, Hochwertigkeit der Materialien und Kreativität des Designs sind die Verkaufsschlager. Die breiten Boulevards haben Marmorböden und warme Sandsteinwände, in die Verse von Shakespeare und Kipling eingraviert sind. Handläufe aus Holz begrenzen Brüstungen und Treppengeländer. Viel Tageslicht dringt durch die gewölbten Glasdächer, unter denen weiße Segel dekorativ hängen. Dezent werden Frischluft, Beduftung und Musik zugeführt. Dazu kommt noch der Bluewater-spirit: allen Mitarbeitern wird in Schulungen eingebimst, die Kunden als „Gäste“ zu verwöhnen.
Dem Augenschein nach geht das Konzept des vergnüglichen, stressfreien Einkaufens ganz gut auf. Die „Gäste“ rasen nicht durch die Malls, sie bummeln und können bei Bedarf in extra Ruheräumen ihre Konsumkraft wieder herstellen. Bevor es weitergeht. Ins Kino oder zur Freeclimbing-Wand, in den Coffeeshop (alle 70 Schritte ist einer!) und dann in die großräumige Familientoilette. Nicht nur komfortable Kinderkrippen sind da, nein, auch ein „Männer-Kindergarten“, wo die Männer beim Pint Bier Dart spielen und Motorzeitschriften lesen, während sie auf ihre shoppenden Ehefrauen warten. Die Hälfte aller Einkaufstouren britischer Paare, ergab nämlich eine Studie, pflegen normalerweise im Streit zu enden.
Und wie in der Birminghamer Star City legt auch Bluewater großen Wert auf das Thema Sicherheit. 95 „Safe House“-Maßnahmen, darunter 300 Überwachungskameras, eine eigene Polizeistation, die Vermeidung dunkler Ecken und Nischen sollen Kunden ein unbeschwertes Einkaufsgefühl vermitteln.
Sieht so das Nonplusultra vom Spaß am Einkaufen im 21. Jahrhundert aus? Das Inhouse-City-Konzept ist „eine Privatisierung und ein Surrogat des öffentlichen Raums“, kritisiert der Architekt und Stadtplaner Robert Kaltenbrunner. An die Stelle des öffentlichen Raums der Städte trete „ein wohlkalkulierter Mix an Infrastrukturen, die reale oder vermeintliche Konsumbedürfnisse befriedigen, die einladend wirken und zugleich das Fortbestehen des Urbanen vortäuschen“, folgert Kaltenbrunner. Künstliche Erlebniswelten schaffen abgeschlossene, kameraüberwachte Binnenräume, durch die urbane Elemente (Wetter, Verkehr) und bestimmte Bevölkerungsgruppen (Bettler, Straßenmusiker, Trinker) ausgegrenzt werden. Und zum notwendigen Einkauf in den Supermarkt fährt kein Mensch mal eben weit raus aus der Stadt. Könnte er auch nicht: Bluewater hat überhaupt keinen Supermarkt.
Zur viel beschworenen Revitalisierung der Städte tragen Megaprojekte wie Bluewater & Co. kaum bei. Das erkannte auch die britische Regierung: So wird Bluewater das letzte außerstädtische Shoppingcenter dieser Größe in Großbritannien sein. Eine Planungsrichtlinie schränkt den großflächigen Einzelhandel auf der grünen Wiese radikal ein.
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