: Zwischen Thron und Altar
von CHRISTIAN SEMLER
Manfred Stolpes Rücktritt provoziert geradezu den Vergleich mit der zweiten großen Ablösung in Deutschlands Osten: mit Kurt Biedenkopfs Amtsverzicht. Beiden Politikern, dem Kirchenmann wie dem Wirtschaftsjuristen, war eine Autorität zugeflossen, wie sie nur in Zeiten großer Verunsicherung möglich ist, wenn alles Gewohnte sich auflöst und der Identitätsboden schwankt. Beide, der herrische, intellektuell auftrumpfende Großstratege in Sachsen und der sanfte, auf Kompromiss und Ausgleich bedachte Großtaktiker in Brandenburg waren erfolgreich als Seeleningenieure. Biedenkopf, weil er die Probleme des Ostens verband mit den gesamtdeutschen ungelösten Aufgaben und damit die Ossis aus der Bettlerrolle befreite. Stolpe, weil er seinen Landsleuten nicht nur Gehör im Westen verschaffte, sondern ihr „Recht auf Biografie“ einklagte – ihren Anspruch, auch vor 1989 kein falsches Leben gelebt zu haben. Beide Politiker arbeiteten daran, aus Sachsen und Brandenburg Anker einer neuen Identität zu machen. Zum Schluss scheitere König Kurt auf typisch westdeutsche Weise an der Nachfolgefrage. König Manfred hingegen ordnete rechtzeitig sein Haus. Wenn nicht alles täuscht, wird der Einfluss von Stolpes Regierungszeit auf den holprigen deutschen Integrationsprozess größer sein als der von Biedenkopfs Regentschaft.
Es ist kein Zufall, dass Manfred Stolpe in der DDR nicht als Kämpfer der demokratischen Opposition groß wurde, sondern in einer Zwischenzone zwischen Staat und Gesellschaft, der evangelischen Kirche, Karriere machte. Als Kirchenjurist, schließlich als Konsistorialpräsident schuf er sich seine eigene Rolle: die des Vermittlers zum Parteistaat der SED. Das war nur möglich, weil er die Doktrin von der „Kirche im Sozialismus“ nicht nur als reine Ortsbestimmung verstand – wir leben nun mal in der DDR und müssen uns mit den Machthabern arrangieren –, sondern weil er im SED-Staat emanzipatorische Bestrebungen verwirklicht sah, die einem Christen die Mitwirkung am Aufbau des Sozialismus ermöglichten. Er war vorsichtig genug, die Rede vom „Grundvertrauen“ in die DDR und ihre Führung nur mit Einschränkungen in den Mund zu nehmen. Aber seine Interviews und Aufsätze in der Zeit vor 1990 sind lutherisch geprägt. Sie zeugen vom Versuch, eine Allianz zwischen Thron und Altar zu bilden. Dies in schroffem Gegensatz zu der These rebellischer DDR-Theologen von der Seelenverwandtschaft lutherischen und realsozialistischen Obrigkeitsdenkens, gegen die gerade im Namen der Emanzipation Front gemacht werden müsse.
Ging Stople bei seinen Verhandlungen mit den Kirchenbeauftragten von Partei und MfS zu weit? Zweifellos. Nicht, weil er Ehrungen entgegennahm, nicht weil er sich vor der Macht verbeugte, sondern weil er im Bezug auf die demokratische Opposition mangelnde Loyalität bewies, weil er gegenüber der Staatsmacht deren Eindruck bestärkte, auch die Kirche fühle sich durch die demokratischen Quertreiber belästigt, weil er letzlich der SED-Führung suggerierte, sie läge mit ihrem Kurs der Ausgrenzung und Abschiebung Oppositioneller nach dem Westen richtig. Gemessen an dieser geballten Ladung von Verständnis und Einfühlungsvermögen ist es eigentlich zweitrangig, ob Stolpe tatsächlich Mitarbeiter der Stasi war oder nicht. Denn auch eine solche Rolle wäre von seinem Selbstverständnis als Mittler gedeckt gewesen.
Die vor allem vom Spiegel getragene Kampagne gegen Stolpe, den wirklichen oder vermeintlichen IM, hat dem Angegriffenen eher genutzt. Bis ins konservative Lager hinein wurde sie als Versuch gewertet, „einen von uns kaputt zu machen“. Mit dem Rücktritt von Marianne Birthler zerriss das dünne Band, das Stolpe mit den Demokraten der Vorwendezeit verbunden hatte. Der Traum, die demokratische Revolution von 1989 zu Ende zu führen – er war sowieso nie Stolpes Traum gewesen. Auch nicht der Traum der großen Mehrheit der DDR-Bürger, die 1990 in der – schon fertigen – Bundesrepublik ankommen wollten. Das klappte nicht, und so wurde Stolpe zum Tröster und guten Hirten der aus dem Tritt gekommenen Herde. Und gegenüber der Alt-Bundesrepublik wie der SPD galt ab jetzt: nicht Konfrontation, nicht den Stachel zeigen wie Regine Hildebrandt, sondern Konsens, Verhandlungen, große Koalition der Vernunft, um einen Lieblingsbegriff der späten SED zu gebrauchen. Die große Koalition in Brandenburg (ab 1999) war deshalb nicht nur Notbehelf. Sie entsprach Stolpes Politikverständnis.
In drei Bereichen war Stolpe allerdings mehr als nur Ausdruck ostdeutscher Befindlichkeit. Er trat zum Ersten für die Länderfusion von Berlin und Brandenburg ein, weil er erkannte, dass diese Aufteilung in zwei Länder zu einer Dauerkonfrontation führen würde, die seinem Hauptanliegen, der sozialen wie demokratischen Integration, schädlich sein würde. Die Volksabstimmung in Brandenburg hat gegen ihn entschieden, ohne seiner Popularität Abbruch zu tun. Heute sehen wir, dass die Abstimmung zu früh kam – jetzt wird sie, man denke an die wirtschaftliche Lage Berlins, zu spät kommen. Stolpes Brandenburg wäre allerdings nicht der einzige Staat, der mit dem Makel der Künstlichkeit ganz gut überleben könnte.
Stolpes zweite, sanft und beharrlich gegen den Willen der Mehrheit durchgesetzte politische Tat betrifft das Verhältnis zu Polen. Man kann die Tragweite dieser Politik nur verstehen vor dem Hintergrund der langjährigen, bis heute dauernden Feindschaft der DDR-Brandenburger gegenüber ihren östlichen Nachbarn. Den Anfang machte der Entwicklungsplan, der Stolpes Namen trug und noch ganz im Zeichen eines belehrenden Paternalismus gegenüber Polen stand. Dann aber folgte Unterstützungsarbeit für eine Vielzahl staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Projekte, für die hier nur die Gründung der Frankfurter Viadrina-Universität als polnisch-deutsch-europäisches Unternehmen stehen mag. So zutreffend die Beobachtung, dass viele Maßnahmen etwa im Schulbereich mehr brandenburgischen Bedürfnissen Rechnung tragen als wirklicher Gemeinsamkeit dienen – ohne Stolpes Arbeit wäre der Boden heute nicht gelockert, hätten Bürgerinitiativen beiderseits der Oder es noch schwerer, wäre die Gefahr noch größer, dass bei jeder Schwierigkeit die alten Stereotype wieder aufflammen.
Die dritte Gelegenheit, bei der Stolpe nicht nur als Befindlichkeits-Sprachrohr, sondern als Präzeptor auftrat, ergab sich beim Kampf gegen Rechtsradikalismus und Fremdenhass. Hier entsprach die Haltung des Landesherrn zunächst durchaus den Mehrheitsgefühlen: herunterreden und bagatellisieren, um den Standort für mögliche Investoren nicht zu gefährden. In den letzten Jahren aber setzte sich Stolpe auch persönlich – wie bei seinem Besuch in Guben nach der tödlichen Hatz auf den Algerier Omar Ben Noui – dafür ein, den Neofaschisten entgegenzutreten. Jetzt galten ihm die Rechtsradikalen nicht mehr nur als Entrechtete, die ihren Zorn leider in die falsche Richtung gelenkt hätten. Mag es auf diesem Feld in Potsdam auch bürokratische Fehlgeburten geben, zumindest der Polizeiapparat wurde unter Stolpes Federführung mobilisiert und in ersten Ansätzen den Erfordernissen angepasst. Stolpe ist in seinem Engagement, in der Unterstützung von Bürgerinitiativen nie so weit gegangen wie sein Parteifreund Wolfgang Thierse. Unter dem Einfluss des CDU-Innenministers Jörg Schönbohm hat er mit der Behauptung von verstärktem Fremdenhass bei verstärkter Zuwanderung sogar einen schwerwiegenden Rückzieher gemacht. Wenn es um Taktik geht, müssen die Prinzipien eben manchmal flexibel bleiben.
Wird Stolpe den Freiraum nach dem Rückzug vom Amt nutzen, um der Regierung zu Gunsten Brandenburgs die Leviten zu lesen? Kaum. Er bleibt lutherischer Preuße. Gebt Gott, was Gottes ist, und nehmt vom Kaiser, was ihr im Konsens kriegen könnt.
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