: Der Wasserturm muss sein
Das Kreuzberger Jugendzentrum an der Fidicinstraße bietet orientierungslosen Kids eine Heimat. Der Bezirk will Projekte aus Spargründen fusionieren
von HANS W. KORFMANN
„Wenn die den Wasserturm schließen, dann wollen sie es doch nicht anders. Dann werden die Jugendlichen eben noch mehr Scheiße bauen.“ Yusuf Yilmaz kennt den Turm seit zehn Jahren, und er kennt die Jungs im Kiez. „Ich weiß, wie es ist, wenn man auf der Straße lebt. Ich hab auch schon ne Menge Scheiß gemacht.“
Die kleinen Narben am Handgelenk zeigt er mit dem Stolz eines Kriegsveteranen, auch wenn er eigentlich die raue Wirklichkeit der Straße demonstrieren will. Er lebt, wie so viele seiner türkischen Altersgenossen, im Zwiespalt. Irgendwo zwischen Heimat und Fremde. Der Turm ist ein Stück Heimat, und die Straße ist die Fremde. Deshalb setzt sich Yusuf ein für die bedrohte Jugendeinrichtung. Er ließ sich für eines der Plakate fotografieren, mit denen die Wasserturm-Liebhaber derzeit gegen den drohenden Sparhammer des Bezirkes protestieren.
Wenn Yusuf spricht, verwendet er die Floskeln, die er schon so oft gehört hat: „Wir müssen die Jugendlichen hier reinziehen.“ Yusuf selbst ist schon 21 Jahre alt und gehört zum Vorstand des Wasserturm e. V. und damit nicht mehr ganz zur Straße. Er ahnt, wie schmal der Grat ist, auf dem er sich bewegt. Nicht ohne Stolz erzählt er von der neuen Tischtennisplatte, die sein Verein dem Turm spendieren konnte. Ohne seine Initiativen, wie etwa jüngst ein Straßenfest, und die wenigen Einnahmen aus dem Café des Vereins hätten die Kids wohl weiter auf der schiefen Platte und mit ungerechten Ergebnissen spielen müssen.
„Ohne Hilfe geht es nicht mehr“, sagt auch Jochem Griese, seit 1984 Projektleiter. Doch die finanziellen Ressourcen des Vereins mit seinen zehn Mitgliedern werden niemals ausreichen, um die sinnvollen Nachrüstungen im ständig ausgebuchten Tonstudio oder der Druckerei zu finanzieren.
Vom Bezirk selbst ist kaum noch Hilfe zu erwarten. Vielmehr droht dem Projekt nach einem Eckpunktepapier der Kreuzberger Sozialverwaltung eine Reduzierung von vier auf zwei Mitarbeiter. In jedem der acht so genannten Sozialräume des Fusionsbezirkes Friedrichshain-Kreuzberg soll zukünftig nur noch je eine Kinder- und Jugendeinrichtung finanziert werden. Wie das knappe Geld dann tatsächlich verteilt werden soll, ist noch unklar, sagt Peter Biernoth, ebenfalls langjähriger Sozialarbeiter im Turm.
Unten, im Turm-Café, zeugen zehn Siegerpokale vom sportlichen Einsatz der Türmer. So belegte die verrückte BSE-Turmkuh beim „Spreebeben“, dem skurrilen Bootsbauwettbewerb, Platz 2 und war in den Tageszeitungen abgelichtet. Was für Außenstehende nur Klamauk ist, zählt für die Teens im Turm weit mehr. Für die, denen Schule und Lehre meist wenig Lorbeeren bescheren, sind die kleinen Erfolge auf Sportplätzen oder Musikbühnen eine lang ersehnte Anerkennung. Die jungen Türken, Araber, Aussiedler und Deutschen laufen mit beim Berlin-Marathon, helfen im Café, wenn ein Paar sich im alten Wasserreservoir des Turms trauen lässt, und kellnern, wenn Doktor Seltsam Kleinkunst auf der Bühne präsentiert.
Früher, sagt Jochem Griese, „da sahen die Jugendeinrichtungen alle gleich aus: Teestube, Fotolabor und eine Metall- oder Holzwerkstatt“. Das hat sich zum Glück geändert. Inzwischen haben die einzelnen Kreuzberger Projekte verschiedene Zielsetzungen. Die Pädagogen und Sozialarbeiter des Turms setzen auf Musik und Sport. Neben Laufsport wollen die Türmler die Jugendlichen mit Hiphop und Jazz aus jener Isolation herausholen, in die sie paradoxerweise gerade durch die Jugendeinrichtungen hineingezwängt werden.
Doch die kleinen Erfolge in den Straßen der Kieze werden von den Statistikern und Finanzbeamten des Senats kaum berücksichtigt. Hier regiert der Sparhammer, Erfolg ist, wenn am Ende des Kürzens weniger Geld ausgegeben wird. Nun also ist eine Verschmelzung des Turms an der Fidicinstraße mit einer Kindereinrichtung in der nahe gelegenen Arndtstraße angedacht.
Was auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, untergräbt die Ideologie der Wassertürmer. Anderen Einrichtungen in Friedrichshain und Kreuzberg droht ein ähnliches Schicksal. Die „breit gefächerten Angebote“, von denen die heutige Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer noch als Jugendstadträtin in ihrer Broschüre „Mächtig was los“ in hilflos gekünstelt jugendlichem Slang schreiben konnte, werden nun straff gebündelt. Es wird zwar auch in Zukunft Plätze geben, wo der Nachwuchs „singen, tanzen, rappen, sprayen, chatten, scratchen, musizieren, surfen und abhotten“ kann – doch eben deutlich weniger.
Derzeit stehen 80 teils kommunale, teils privat organisierte, doch vom Bezirk mitfinanzierte Einrichtungen zur Verfügung. Nicht von ungefähr. Kreuzberg und Friedrichshain sind soziale Brennpunkte. Peter Biernoth, der nach 13 Jahren im Statthaus Böcklerpark nun seit drei Jahren im Turm arbeitet, fürchtet um sein begehrtes Tonstudio und die Bands, die den Turm beleben. Sabine Blankenheimer, die mit ihrer jugendlichen Redaktion zuerst Kidsblitz und jetzt City Youth herausgibt, sorgt sich um die hauseigene Druckerei. Dabei hatten schon das Fernsehen und die Neue Zürcher Zeitung über die Jugendzeitschrift berichtet.
Und Achmet Aledmir, mit acht Dienstjahren der Zweitälteste im Team, denkt darüber nach, ob die ausländischen Jugendlichen noch kommen werden, wenn im Wasserturm ein Kindergarten einzöge. Etwa 50 Prozent der Jugendlichen im Turm kommen ursprünglich aus der Türkei. Es gab sogar Zeiten, in denen die türkische Sprache im Jugendzentrum vorherrschte.
Und es gab wilde Zeiten, in denen „an jedem Wochenende die Polizei vor der Tür stand“, mit Rangeleien und bedrohlichen Situationen. Das Leben im Turm war nicht das in einem Labor, sondern das wirkliche Leben. Aus den kleinen wurden große Jungs, die ihren Erziehern schon mal mit dem Messer vor der Nase herumfuchtelten. Manche sind noch heute da. Sie sitzen am Tresen im Café, reden über die alten Geschichten oder die neuen. Lassen sich beim Schreiben ihrer Bewerbungen helfen oder nutzen das Tonstudio, um ihren Rap auf das Leben hier zu verewigen.
Der Turm ist eben für manche ein seltenes Stück Heimat. Ein Nest, dem sie treu bleiben, wie die beiden Turmfalken auf dem Dach. Manchmal erscheint sogar die verhasste Schule den wurzellosen Jugendlichen wie ein Nest. Heute denken sie gelegentlich mit Nostalgie zurück.
„Diese Langeweile immer, jeden Tag dasselbe, Aufstehen, zur Schule gehen, Bücher raus – und immer dieselben Gesichter. Aber jetzt vermiss ich das manchmal.“ Yusuf Yilmaz war „nicht immer der Beste“ in der Klasse. Aber jetzt könnte er sich das schon vorstellen: Wieder auf die Schule, das Fachabi machen, Studieren. Vorsichtshalber hat er erst einmal eine Ausbildung abgeschlossen. Und ein Papier in der Hand. „Immerhin etwas“, sagt er. „Aber wenn da Einzelhandelskaufmann draufsteht, was ist das schon!“ In die Schule führt kein Weg zurück. In den Wasserturm schon. Und Yilmaz ist jetzt im Vorstand des Vereins, er spielt Schlagzeug in einer Band, und er hat Ideen, viele. Die meisten lassen sich nicht verwirklichen, es fehlt an Geld. „Wir schaffen das eben nicht alles allein. Mit den paar Mark aus dem Café. Und ich hab auch nicht immer Zeit. Ich hab ja auch noch ein Privatleben!“ sagt Yilmaz und macht ein ernstes Gesicht.
Es klingt ein bisschen, als säße der Einzelhandelskaufmann im Vorstand einer Bank. Dabei hat er mehr Zeit, als ihm lieb ist. Genau genommen ist er arbeitslos. Wie auch andere hier. Aber er hat eine Aufgabe. „Immerhin …“ Yusuf Yilmaz weiß, dass der Turm nur ein Strohhalm ist, an den er sich klammert. „Das ist unser Jugendzentrum!“, sagt er und legt dabei die Hand auf seine Brust. Viel mehr als den Turm hat er im Moment nicht. Und deshalb muss er bleiben. Er. Und der Turm.
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