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Versemmelt, so oder so

Bremen im Finale: Ducken, Strecken, Kapitulieren. Die Domshofler sehen Ronaldo & Co. nicht, die „Casablanca“-Fans meinten: „Dafür werden wir nächstes Jahr Weltmeister“

„Wir haben noch nie hinten gelegen. Damit haben wir keine Erfahrung“

Am Krankenwagen auf der Domshof eine Schlange von etwa fünfzehn Metern. Dabei sind wir noch mitten in der ersten Halbzeit – und weder Spiel noch Temperaturen sind nach Kreislaufkollaps. Offensichtlich ist auch niemand verletzt, dafür sind sie alle in fließender Bewegung, als wären sie Boxer im Kampf gegen einen imaginären Gegner. Der Gegner ist mal die Schulter, mal der Kopf oder Arm des Vordermannes. Permanent weichen sie aus, ducken sich, strecken sich und müssen doch kapitulieren: Der Fernseher im Inneren des Krankenwagens ist zu klein, keine Chance. Da hat tatsächlich nur der Sanitäter etwas davon, der breit und zufrieden davor sitzt und aus Mitgefühl die Seitentür geöffnet hat.

Die anderen fünfzehntausend auf dem Domshof haben das gleiche Problem: Die Leinwand auf dem Domshof ist ein größerer Fernseher, in der Ferne zu erkennen, wenn überhaupt. „Hier siehste nur ‘nen Bierstand. Lassuns woanders hingehen“, sagt einer. Das denken sich die meisten auf dem Domshof und bringen ihr WM-Finale damit zu, einen halbwegs akzeptablen Platz zu suchen. Manche fügen sich auch in ihr Schicksal, ignorieren die Gegenwart und feiern ohne Leinwand-Blick da weiter, wo sie am vergangenen Dienstag aufgehört haben: „Finale – Oh, Oh, Oh, Oh.“

In der Pause dann sogar der Rückschritt in die Vorvergangenheit, noch dazu mit Unterstützung des DJs von Radio Bremen Eins: „Ohne Holland fahren wir zur WM.“ Dass es mittlerweile darum geht, wieder heimzufahren. Auf dem Domshof hatte das im Wortsinn niemand auf dem Schirm. Das Finale hier: Versemmelt, so oder so.

Also Flucht ins Viertel, wo die Straßen menschenleer sind, weil alle in Trauben vor Kneipeneingängen hängen. In den ersten Reihen des „Casablanca“ Fans der Völler-Generation, graues Haar, keine Schminke im Gesicht, dafür ernster Blick, die Hand am Kinn, den ausgestreckten Zeigefinger quer über die Lippe. Könnte eine Prüfungskommission sein. Eine, die in der 49. Minute bei Neuvilles Pfostenschuss völlig unerwartet aufspringt und eine Jubel-Druckwelle zustande bringt, die bis zu den Fans in der letzten Reihe schwappt.

Nach Brasiliens Führung wandern die Zeigefinger in den Mund, es werden Nägel gekaut. Analysen, ohne den Blick von der Leinwand zu nehmen: „Wir haben bei der WM noch nie hinten gelegen. Damit haben wir überhaupt keine Erfahrung.“ Das hält diese Fan-Generation schlecht aus: „Lasst mich durch. Ich kann nicht mehr.“

Und dann war doch alles halb so schlimm. Virtuose Erklärungen (“Und warum? Nur weil Olli Kahn im Tor steht!“), fachmännisch fundierte Bereitschaft zum Positiv-Denken (“Dann werden wir halt nächstes Jahr Weltmeister. Das geht genauso.“) und erstaunlich entspannte Annäherungen zwischen torkelnden deutschen und tanzenden brasilianischen Fans (“Wir heiraten. Heute noch.“). Auf den Höfen kreisen die Hüften, blau-gelbe Brailianer neben Afrikanern mit „Es gibt nur einen Rudi Völler“ auf und spieltenden Lippen neben schwarz-rot-goldenen Siegertouristen neben Deutschen, die sich – einer dunklen Vorahnung folgend – von vorneherein als Brasilianer verkleidet hatten. Sieger-Sein, das ist die Botschaft, Sieger-Sein ist im Fußball dann doch nicht mehr als die Frage nach der richtigen Garderobe.

Klaus Irler

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